Hans-Hermann Höhmann: "Freimaurerei (2)"

Hans-Hermann Höhmann
Freimaurerei
Analysen, Überlegungen, Perspektiven (Teil 2)
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Zum Andenken an
Rudolf Friebe
Hermann Höhmann
Friedrich Heller
 
 
1.2 Freimaurerei in der sowjetischen Besatzungszone
Auch viele der in der damaligen sowjetischen Besatzungszone lebenden ehemaligen Freimaurer,
die, wie ihre Brüder im Westen, oft auf privater Basis Kontakt gehalten hatten, unternahmen
unmittelbar nach Kriegsende große und vielfältige Anstrengungen, ihre Logen
wieder zu eröffnen.18 In Leipzig, wo die Freimaurerei bis zum Ende unter der NS-Herrschaft
zahlenmäßig stark und gesellschaftlich bedeutend gewesen war, bemühten sich insbesondere
die Logen »Minerva zu den drei Palmen«, »Balduin zur Linde« und »Apollo« um die Wiederbelebung
der Logenarbeit.19
In Dresden setzte der Wiederaufbau der Freimaurerei gleichfalls bald nach der deutschen
Kapitulation im Mai 1945 ein. Ein erster – und leider zugleich auch letzter – Höhepunkt
war, dass am 26. Juni 1946 mit einer gemeinsamen Feier der traditionsreichen
Logen »Zu den drei Schwertern«, »Zum goldenen Apfel« und »Zu den ehernen Säulen«
das Johannisfest begangen werden konnte. Der Anwesenheitsliste zufolge haben an dieser
Festarbeit 134 Freimaurer aus 14 verschiedenen Logen teilgenommen.20
Besatzungszonen Zuwendungen an Wein erhalten« haben und dass der Wein »rituellen Zwecken« diene,
so wie etwa bei der gewährten Lieferung von »Abendmahlsweinen«. Das Ministerium lehnte ab, u.a. mit
dem Hinweis, dass es »bei Zuteilung von Mess- oder Abendsmahlwein etwas anders« sei.
16 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
17 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
18 Vgl. zum Folgenden: Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends,
Frankfurt 1966, S. 449–450.
19 Ebenda, S. 449.
20 Ebenda.
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Ein weiterer Ort in der sowjetischen Besatzungszone, in dem sich unmittelbar nach
Kriegsende wieder freimaurerisches Leben regte, war Cottbus. Seit Herbst 1945 trafen sich
mehrere Mitglieder der Loge »Zum Brunnen in der Wüste«, einer Tochterloge der Großen
Landesloge der Freimaurer von Deutschland, allwöchentlich, um die Wiederaufnahme der
Logentätigkeit vorzubereiten. Auch bemühten sie sich, die zu vielen einstigen Mitgliedern
abgerissene Verbindung wiederherzustellen.21
Als sich jedoch die Loge in Aue im Frühsommer 1946 an die Behörden in Sachsen
wandte, um eine offizielle Erlaubnis zur Wiederaufnahme der freimaurerischen Tätigkeit zu
erhalten, teilte die sächsische Landesverwaltung der Loge mit, dass »eine Wiederzulassung
von Freimaurerlogen nicht genehmigt und derartige Anträge daher auch nicht an die Sowjetische
Militäradministration des Landes Sachsen weitergeleitet« würden.22
Insgesamt scheiterte der Wiederaufbau der Freimaurerei in der sowjetisch besetzten
Zone sowohl am Einspruch der sowjetischen Besatzungsmacht als auch am Widerstand
deutscher Behörden, die seit 1946 zunehmend unter kommunistischen Einfluss geraten
waren. Wie in den übrigen kommunistisch beherrschten Ländern untersagten die Kommunisten
schließlich auch in der deutschen Sowjetzone jede freimaurerische Tätigkeit. Sie
folgten damit einem Beschluss, der bereits im November 1922 auf dem 4. Kongress der
Kommunistischen Internationale gefasst worden war:23
»Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, dass die führenden Organe der Partei alle
Brücken abbrechen, die zum Bürgertum führen, und deshalb auch einen radikalen
Bruch mit der Freimaurerei vollziehen … Die Freimaurerei ist die unredlichste und
infamste Prellerei des Proletariats seitens eines nach der radikalen Seite neigenden
Bürgertums. Wir sehen uns gezwungen, sie bis aufs äußerste zu bekämpfen.«
2. Neue Großlogenordnung
2.1 Ausgangssituation und Vorgeschichte der VGL
Die zweite Aufgabe der deutschen Nachkriegsfreimaurerei bestand in der Schaffung einer
leistungsfähigen Großlogenordnung. Es bestand weitgehend Konsens unter den deutschen
Freimaurern, dass die alte Großlogenordnung der Vorverbotszeit weder wiederhergestellt
werden konnte noch nach dem Willen der Brüder wiederbelebt werden sollte. Vier Gründe
dafür sind erkennbar, die zum Teil auch in den Debatten artikuliert wurden:
• Erstens wäre die Zahl der deutschen Freimaurer nach dem Krieg einfach zu gering dafür
gewesen. Von den 73.300 Brüdern des Jahres 1932 waren ja nicht einmal 10.000 übrig geblieben;
• zweitens bestanden große Hoffnungen, dass das Streben nach Einheit der deutschen Freimaurerei
endlich von Erfolg gekrönt sei, war doch die alte Struktur mit der Dominanz
21 Ebenda.
22 Ebenda.
23 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 454.
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der »altpreußischen« Großlogen obsolet geworden und durch deren Annäherung an den
Nationalsozialismus in starkem Maße national und international kompromittiert;
• drittens ließ die von den Alliierten verfügte administrative Neuregelung Deutschlands
keine Großlogenorganisationen zu, die über die Grenzen der Besatzungszonen und später
der neugeschaffenen Länder hinausgingen, was hätte der Fall sein müssen, wenn versucht
worden wäre, die ehemals »reichsweit« operierenden Großlogen wiederherzustellen
und
• viertens schließlich brachten die räumlichen Strukturen der Besatzungszonen und die
Sonderrolle Berlins eine Verlagerung der freimaurerischen Entscheidungskompetenzen
von Berlin in die Westzonen Deutschlands mit sich, die sich als folgenreich und im
Ganzen positiv erweisen sollte.
Dies gab Raum für den Weg der Vereinigung, der über Landesgroßlogen in den Ländern der
drei westalliierten Besatzungszonen zur Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
führte, die 1949 gegründet wurde. Die konservativ und christlich orientierte Große
Landesloge der Freimaurer von Deutschland hat sich an dieser Einigungsbewegung allerdings
nicht beteiligt. Dem standen sowohl das unverändert beibehaltene christliche Prinzip
der Mitgliedschaft als auch die hierarchische Struktur der Großloge mit ihrer spezifischen,
christologisch ausgerichteten Hochgradstruktur im Wege.
Auch noch nach Gründung der Vereinigten Großloge im Jahre 1949 war das Verhältnis
zur Großen Landesloge nicht ohne Spannungen. Der Großmeister der VGL, Dr. Theodor
Vogel, der auf eine Anerkennung seiner Großloge durch die Vereinigte Großloge von England
hinarbeitete, befürchtete aufgrund von Schreiben aus London, seine Bemühungen
durch ein Übereinkommen mit der Großen Landesloge zu gefährden, und verwies auf
deren »immer einseitiger werdende Betonung des christlichen Ordens mit den nur ›angeflickten‹
freimaurerischen Formen«.24
Die wichtigsten Stationen des Zusammenschlusses der deutschen Freimaurerei von
1945 bis 1949 lassen sich wie folgt beschreiben:25
Nachdem zahlreiche der während der Nazizeit verbotenen Freimaurerlogen ihre Arbeit
– vielfach noch »inoffiziell« – ab Herbst 1945 wieder aufnehmen konnten, kam es
bereits im November 1945 zu einem ersten Versuch, unter dem Namen Bundesgroßloge
von Deutschland »Zu den Alten Pflichten« eine Vereinigungsgroßloge zu begründen.26 Der
Stuttgarter Freimaurer Dr. Fritz Lichtenberg hatte zu einer Konferenz nach Bensheim an
der Bergstraße eingeladen, an der Vertreter von vier ehemaligen und sich im Prozess der
Wiederbegründung befindenden Großlogen – der »Großen Loge von Hamburg«, der Großloge
»Zur Sonne« (Bayreuth), der »Großen Mutterloge des Eklektischen Freimaurerbundes«
(Frankfurt) sowie der »Großen Freimaurerloge Zur Eintracht« (Darmstadt) – teilnahmen.
24 Rundbrief des VGL-Großmeisters vom Frühjahr 1949, Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
25 Vgl. In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975, Quellenkundliche
Arbeit Nr. 13 der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, 1979, S. 7–11; Richert, Thomas:
Der Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, in: Quatuor Coronati Jahrbuch Nr.
37/2000, S. 135–151; Woher - Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die Geschichte der
Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002.
26 Vgl. In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975, a.a.O. Quellenkundliche
Arbeit Nr. 13 der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, 1979, S. 7f.
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Die Großloge wurde konstituiert, konnte aber keine Wirksamkeit entfalten und stellte ihre
Arbeit im Sommer 1946 praktisch wieder ein. Die formelle Auflösung erfolgte im Juli 1947,
als der Nachfolger Lichtenbergs als Großmeister, Br. August Hirscher, erklärte, dass die
Bundesgroßloge nicht mehr bestünde.27 Grund für das Scheitern dieses ersten Vereinigungsprojekts
war neben dem Tod Fritz Lichtenbergs im März 1946 vor allem der Umstand, dass
die Alliierten ihre zunächst erteilte Genehmigung zurückzogen, weil es zwischen ihnen
mittlerweile zum Konsens geworden war, keine Zusammenschlüsse von Logen zu genehmigen,
deren Zuständigkeitsbereich über die Grenzen ihrer Besatzungszonen bzw. der neu
gebildeten deutschen Teilstaaten hinausging.
Der Weg zur Vereinigung musste folglich auf eine andere, indirektere und mehr Zeit
beanspruchende Weise erfolgen. Dabei waren zwei miteinander verbundene Prozesse von
Bedeutung:
Einerseits ging die Initiative von den Logen aus. Es bildete sich die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft
von Freimaurerlogen. Nachdem diese zuerst eine vorwiegend hessische Institution
gewesen war, gewann sie eine vorwärtstreibende, überregionale Dynamik nach einem
Treffen, zu dem sich am 14. und 15. Juni 1947 in Frankfurt/Main 21 Mitglieder früherer »humanitärer
« und »christlicher« Großlogen, jedoch ohne Vertreter der Großen Landesloge, zusammengefunden
hatten. Der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft sollte die Aufgabe zufallen,
• die Verbindung zu allen bereits wieder bestehenden Logen und Großlogen herzustellen
bzw. zu halten,
• als eine allgemeine Auskunftsstelle zu dienen und
• in Ausschüssen die Grundlagen für einen späteren organisatorischen Zusammenschluss
der deutschen Freimaurerlogen zu erarbeiten.
An die Spitze der Arbeitsgemeinschaft trat der Wiesbadener Rechtsanwalt Dr. August
Pauls,28 der auch der erste Großkommandeur des »Alten Angenommenen Schottischen Ritus
« (AASR) in der Nachkriegszeit gewesen ist. Zur dominierenden Gestalt der Arbeitsgemeinschaft
wurde allerdings bald der Schweinfurter Industrielle Dr. Theodor Vogel, der zukünftige
Großmeister der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland. Vogel war
die überragende Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsfreimaurerei. Es lässt sich wohl sagen,
dass ohne Vogel die masonische Nachkriegsgeschichte in Deutschland anders verlaufen
wäre und dass er mit Tatkraft, Charisma, Fortune sowie für das Nötige und Mögliche
bis zur Gründung der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland alles – oder
zumindest doch fast alles – richtig gemacht hat, was dann allerdings für die nächste Etappe
der deutschen Großlogenentwicklung, die Entwicklung hin zu den Vereinigten Großlogen
von Deutschland, VGLvD (gegründet 1958), bedauerlicherweise nur noch sehr bedingt gesagt
werden kann. Zu Beginn der überregionalen Anstrengungen Vogels gab es freilich auch
kritische Stimmen zu seinen Aktivitäten, bei denen gar der Terminus »Wühlarbeit« Verwendung
fand.29
Wie sehr auch die Tätigkeit der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von wirtschaftlichen
Schwierigkeiten beeinträchtigt war, zeigt ein Hilferuf ihres Geschäftsführers Georg Geier an
27 Richert, Thomas: Der Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, a.a.O. S. 137.
28 Ebenda, S. 8.
29 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
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die Mitgliedslogen vom 15. Juli 1948, in dem es heißt: »Die Währungsreform hat unseren
Kassenbestand von über 6000,– Mark auf einen vorläufigen Verfügungsbestand von etwas
über 300,– Mark reduziert.« Dieser Feststellung schließt sich die Bitte an die Brr. Schatzmeister
an, ausstehende Beiträge umgehend zu überweisen.30
Der neben den Aktivitäten der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft zweite Ansatz zur freimaurerischen
Einheit bestand darin, dass die Logen seit 1947 damit begannen, sich zu
Landesgroßlogen zusammenzuschließen. Dabei konnten für Hamburg und Bayern die Traditionen
früherer Großlogen fortgesetzt werden (Große Loge von Hamburg und Großloge
»Zur Sonne« in Bayreuth). Die Neugliederung des ehemaligen Reichsgebietes durch die
Besatzungsmächte brachte es aber konsequenterweise mit sich, dass auch dort neue freimaurerische
Regionalorganisationen entstanden, wo es früher derartige Zusammenschlüsse
nicht gegeben hatte. So beschlossen die Bremer Logen, die sich nach dem Krieg neu konstituiert
hatten, im Dezember 1948 eine Landesgroßloge von Bremen zu gründen. Die Bremer
Logen, die damit zum Einigungswerk der deutschen Freimaurerei beitragen wollten, gingen
offenbar – und wie sich dann zeigte, durchaus zu Recht – davon aus, dass die geplante
Vereinigte Großloge von Deutschland sich in ihrer Organisation auf regionale Distriktsgroßlogen
stützen würde, deren Wirkungsbereich mit den Grenzen der neu geschaffenen
Bundesländer zusammenfiel.
2.2 Die Vereinigte Großloge der Freimaurer von Deutschland (1949)
Im Mai 1948 trafen sich die Großmeister dieser Landesgroßlogen in Frankfurt am Main zum
ersten Mal, legten ein Bekenntnis zur Einigung der deutschen Freimaurer auf »humanitärer
und föderativer Basis« ab, beschlossen die Schaffung eines Großmeistervereins und vereinbarten
den Eintritt in Vorbereitungen zur Vereinigung der Landesgroßlogen und ihrer Logen
in einer Vereinigungsgroßloge. Im Oktober 1948 fand auf einem 2. deutschen Großmeistertag
in Bad Kissingen die Gründung der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
statt. Hierbei wurde ein zukünftiges Grundgesetz der Großloge angenommen und der
Großmeister der Großloge von Bayern, Dr. Theodor Vogel, für eine zunächst bis zum Johannistag
1949 währende Amtszeit zum Großmeister der VGL gewählt. Dem Grundgesetz
und der Gründung der VGL stimmten von 145 teilnehmenden Freimaurerlogen aus den drei
westlichen Besatzungszonen 142 zu.
Um die geplante gemeinsame deutsche Großloge zum Sammelbecken ausnahmslos
aller deutschen Freimaurer zu machen, sollte sie auch den Mitgliedern derjenigen freimaurerischen
Großkörperschaften offen stehen, die vor 1933 von den bestehenden Großlogen
nicht als regulär anerkannt worden waren, wie insbesondere der Freimaurerbund zur
aufgehenden Sonne und die Symbolische Großloge von Deutschland. Die Großmeister
beschlossen dementsprechend: »Die Einverbrüderung von Angehörigen und die Regularisierung
von Logen des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne soll in würdiger und
keinesfalls kränkender Form erleichtert erfolgen, sobald die Bibel und der Allmächtige
Baumeister aller Welten als Symbole der Freimaurerei bejaht werden. Isolierte Logen, die
sich keiner lizenzierten Landesgroßloge angeschlossen haben, sind irregulär.«31
30 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0005.
31 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland, a.a.O., S. 537.
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Am Rande einer freimaurerischen Tagung, die Anfang August 1948 in Baden-Baden stattfand,
war es auch zu längeren Aussprachen zwischen Vertretern der späteren Vereinigten
Großloge der Freimaurer von Deutschland (VGL) und dem Landesgroßmeister der Großen
Landesloge der Freimaurer von Deutschland, Dr. Hans Oehmen, gekommen.32 Als Resultat
dieser Gespräche unterbreiteten die Vertreter der späteren VGL dem Landesgroßmeister folgende
Verständigungsgrundlage:
1. »Die Große Landesloge hat das Recht, in allen Teilen Deutschlands Johannislogen zu
gründen oder bestehende zu reaktivieren.
2. Die nach dem System der Großen Landesloge arbeitenden Johannislogen schließen sich
der zu errichtenden Einheitsloge mit allen Rechten und Pflichten an. Die Große Landesloge
verzichtet auf eigene Provinzialgroßlogen, überwacht aber Lehre und Brauchtum
der nach ihrem System arbeitenden Logen.
3. Die Große Landesloge ermöglicht den Mitgliedern von Johannislogen anderer Systeme
Eintritt und Beförderung in ihre Andreaslogen und Kapitel, wobei ihr ein Prüfungsrecht
zusteht und die Bewerber auf dem Boden eines dogmenfreien Christentums stehen müssen.
«
Diese Verhandlungsgrundlage wurde von der Großen Landesloge jedoch nicht aufgegriffen.
Grund dafür war die Befürchtung, dass die Annahme der Punkte 2. und 3. die einzelnen Logen
der Großen Landesloge ihrer bisherigen Leitung entfremden und sie deren Einfluss entziehen
würde.
Zwei Jahre später, im Juni 1950 auf dem VGL-Großlogentag in Hannover, musste Großmeister
Vogel zum Stand der Verhandlungen der VGL mit der Großen Landesloge bilanzierend
feststellen:
»Die Versuche …, mit der GLL zu einem Übereinkommen zu gelangen haben zu keinem
Erfolg geführt … Zwei wesentliche Punkte trennen uns von der Auffassung der
GLL:
1. die Überzeugung, dass die Johannis-Freimaurerei das gesamte Wesen der Freimaurerei
umfasst und nicht irgendwie untrennbar in ein System der Hochgrade eingebaut
werden kann;
2. die Forderung der GLL, dass die Aufnahme in den Orden das christliche Bekenntnis
voraussetzt, während nach unserer Auffassung die Freimaurerei verpflichtet ist,
unter voller Würdigung der Symbole des ABaW und der Bibel sich zu der Religion
zu bekennen, in der alle Menschen übereinstimmen.
Wir anerkennen, dass die GLL aus der Entwicklung der Bruderschaft nicht wegzudenken
ist, in freimaurerischer Form arbeitet und dass wir Ehrfurcht vor ihr haben.
Wir gestatten unseren Brüdern den brüderlichen Verkehr mit den Bauhütten der GLL
unter der Voraussetzung, dass die gleiche freie Entscheidung auch den Angehörigen
der GLL gestattet ist.«
32 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O, S. 540.
98
Die von Theodor Vogel 1950 umrissene Haltung der Großen Landesloge hat sich auch
durch die 1958 erfolgte Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD)
nicht geändert.
Die Große Landesloge hätte sich freilich in der Tat nur um den Preis weit reichender
konzeptioneller und organisatorischer Veränderungen in eine deutsche Vereinigungsgroßloge
eingliedern können. Diese Veränderungen wären zwar nicht unmöglich gewesen, wie
auch von einheitswilligen Brüdern der GLL immer wieder – z.B. auch auf der Hamburger
Hauptversammlung im Jahre 1950 – hervorgehoben wurde.33 Für die Mehrheit der Mitglieder
– und vor allem für die Leitung der Großloge – waren sie jedoch nicht akzeptabel. Ja,
man sah in der Situation des sich verschärfenden »Kalten Krieges« geradezu ein weiteres
Motiv für die Selbstständigkeit der eigenen, christlich orientierten Großloge. Die Zeitschrift
der Großen Landesloge berichtete über die Hamburger Hauptversammlung von
1950, bei der intensiv über die Frage einer gemeinsamen deutschen Großloge diskutiert
wurde, in diesem Sinne folgendermaßen:
»Mit beredten Worten wurde das Zusammengehen befürwortet, aber ebenso nachdrücklich
und unmissverständlich verlangte man, dass die Logen nicht aus dem Verbande
der GLL gelöst werden könnten und dürften. Es wurde betont, dass gerade
jetzt, wo das Abendland um die Erhaltung und Neubelebung seiner alten, auf christlicher
Grundlage beruhenden Kultur ringe, der christlichen Freimaurerei eine Aufgabe
von unerhörter Tragweite gestellt sein.«34
Was nun nahegelegen hätte, wäre ein befreundetes Nebeneinander einer größeren und einer
kleineren deutschen Großloge gewesen. Von diesen beiden Großlogen hätte sich allerdings
nur die größere, die Vereinigte Großloge von Deutschland, auf unbeschränkte Weise in den
Kontext der Weltfreimaurerei eingliedern lassen, denn gegen das Prinzip einer christlichen
Großloge bestanden Bedenken – trotz der guten Beziehungen zwischen der englischen und
der schwedischen Großloge – seitens der an den »Alten Pflichten« orientierten Weltbruderkette.
35
Die 1958 erfolgte Gründung eines Großlogenbundes unter der Bezeichnung Vereinigte
Großlogen von Deutschland, VGLvD, hat der Vitalität innerhalb der deutschen Freimaurerei
aufs Ganze gesehen langfristig eher geschadet als genützt und ist auch der Stellung der
33 Der wichtigste Anwalt einer »echten« deutschen Vereinigungsgroßloge innerhalb der GLL war der Wuppertaler
Freimaurer und Logenmeister Ernst Walter, der zweimal zum Großmeister der VGLvD gewählt
wurde, aber innerhalb seiner eigenen Großloge in konzeptionellen Fragen keine nennenswerte Unterstützung
fand.
34 Auszug aus dem Bericht von der Hauptversammlung der GLL in Hamburg (»Zirkelkorrespondenz« Nr.
4/1950), Materialien der Bibliothek des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
35 So gab es insbesondere seit den 1920er Jahren gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei seitens der
»English-speaking Masonry« prinzipielle Abgrenzungen. Beispielsweise heißt es als Erläuterung zur ersten
der Alten Pflichten (Concerning God and Religion) im Masonic Text Book der Grandlodge of
Maine im Anschluss an eine Zurückweisung der rituellen Eliminierung des Großen Baumeisters aller
Welten durch den Grand Orient de France: »Attempts have also been made in the opposite direction. In
Prussia, Isrealites have been excluded. This is equally a violation of the landmark: while a belief in the
Fatherhood of God and the Brotherhood of Man is absolutely additional reqirements are innovations.«
(The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164).
99
Freimaurerei in der sie umgebenden Gesellschaft nur sehr eingeschränkt zugutegekommen.
Die Schaffung des »Dachverbandes« VGLvD kann daher kaum als erfolgreiche Fortsetzung
des Vereinigungswerks von 1949 angesehen werden. Dafür stimmt sie strukturell zu sehr mit
der alten Zielvorstellung der GLL überein, lediglich einen in seinen Zuständigkeiten und
Funktionen begrenzten Großlogenbund zu akzeptieren. Ein Großlogenbund entspricht
allerdings kaum den international anerkannten und weltweit praktizierten Standards einer
echten Großloge, wie sie in den »Basic Principles for Grandloge Recognition« der United
Grandloge of England festgeschrieben wurden, und ist auch kaum in der Lage, für ein
klares Profil der in ihm zusammengefassten Freimaurerei zu sorgen. Die unter internationaler
Mitwirkung zustande gekommenen Strukturen der VGLvD konnten folglich von
Anfang an nicht befriedigen und haben seitens der an der Schaffung einer wirklichen
Großloge interessierten Alten Freien und Angenommenen Maurer immer wieder zu Korrekturversuchen
geführt, die von der Großen Landesloge allerdings nur so weit akzeptiert
wurden, wie ihr dies mit der unveränderten Großlogen- bzw. Autonomievorstellung der
GLL vereinbar erschien. Im nächsten Abschnitt dieses Beitrags ist ausführlicher auf die
»VGLvD-Problematik« zurückzukommen.
So stand die Große Landesloge bewusst und konsequent abseits, als die Vereinigte
Großloge der Freimaurer von Deutschland (VGL), auf die sich die Vertreter der westdeutschen
Logen und Großlogen in Bad Kissingen geeinigt hatten, am 19. Juni 1949 in der
Frankfurter Paulskirche feierlich eingesetzt wurde. Der Zusammenschluss war bis zur Paulskirchenfeier
am 19. Juni 1949 auf 174 Freimaurerlogen angewachsen, die – wie die nachfolgende
Zusammenstellung zeigt – aus sämtlichen alten Großlogensystemen stammten und
6745 Brüder in den Zusammenschluss einbrachten:36
42 Logen aus der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, 35 Logen
aus der Großen Loge »Royal York zur Freundschaft«, 34 Logen aus der Großloge »Zur
Sonne«, 18 Logen aus der »Großen Loge von Hamburg«, 14 Logen aus dem »Eklektischen
Freimaurerbund«, sieben Logen aus der Großloge »Zur Eintracht«, fünf Logen aus der
»Symbolischen Großloge«, vier Logen aus der »Großen Landesloge«, vier Logen aus der
»Großen Landesloge von Sachsen«, eine Loge aus dem Freimaurerbund »Zur aufgehenden
Sonne«, zehn Neugründungen aus der Zeit nach 1945.
Die umfangreich ausgefallene Beteiligung ehemaliger Logen der Großen National-Mutterloge
»Zu den drei Weltkugeln« an der Gründung der Vereinigten Großloge von Deutschland
stieß auf Protest seitens der Berliner Großloge. Die aus der Weltkugel-Großloge stammenden,
schwerpunktmäßig in Nordrhein-Westfalen beheimateten und inzwischen der
dortigen Landesgroßloge angehörenden Logen beschlossen daher auf dem Stuhlmeistertag
der Landesgroßloge am 8. Mai 1949 eine Erklärung, in der es hieß:
»Alle Logen sind … als unabhängige, selbstständige Logen wieder ins Leben gerufen
worden. Sie haben daher das Recht, ihrerseits zu entscheiden, ob sie sich organisatorisch
der alten Großloge wieder anschließen oder eine eigene Organisation mit oder
ohne Logen anderer Systeme bilden wollen … Den von verschiedenen Seiten uns gemachten
Vorwurf der Untreue weisen wir hiermit zurück. Wir wollen nur die seit
Jahrzehnten von der deutschen Freimaurerei ersehnte Einheit. Wir sind demnach bei
36 Vgl. In memorial Theodor Vogel, a.a.O., S. 9f.
100
aller Anerkennung der Vergangenheit nur dem Gebot der Stunde gefolgt, als wir uns
für den Zusammenschluss zum Wohle der deutschen Freimaurerei und unseres Vaterlandes
entschieden.«37
Mit dem Tag der feierlichen Konstituierung der Vereinigten Großloge gliederten sich die
Großlogen der einzelnen Länder Westdeutschlands als Landesgroßlogen der VGL ein, erkannten
deren Verfassung auch für sich als verbindlich an und erklärten sich bereit, alle Bestimmungen
ihrer seitherigen Gesetze, Statuten und Verfassungen außer Kraft zu setzen, soweit
diese zu den Bestimmungen der Verfassung der VGL in Widerspruch standen.38
Mit der Gründung der Vereinigten Großloge war der organisatorische Zusammenschluss
der Freimaurerei in Deutschland allerdings noch nicht abgeschlossen.39 Zwar war
die Mehrzahl der deutschen Logen der Vereinigten Großloge beigetreten, aber neben der
Großen Landesloge mit ihren rund 80 Tochterlogen waren auch noch andere Logen dem
Zusammenschluss in der Paulskirche ferngeblieben. Dazu gehörten vor allem die Berliner
Tochterlogen der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, die vier verbliebenen
Logen der Großen Loge Royal York zur Freundschaft und die knapp zehn Logen
der Großloge »Zu den Alten Pflichten«, in der Logen der einstigen Berliner Provinzialloge
der Großen Loge von Hamburg nach 1945 zusammengefasst worden waren. Während
die 3WK-Logen zunächst außerhalb einer Vereinigung blieben – sie schlossen sich später,
zunächst als Einzellogen und dann als Großlogenverband, den Vereinigten Großlogen von
Deutschland (VGLvD) an –, gingen die Logen von Royal York und »Alten Pflichten« im
Januar 1950 zur »Vereinigten Großloge in Berlin (VGLiB) zusammen. Auf dem Coburger
Großlogentag der VGL im September 1954 wurden die Logen der VGLiB in die Vereinigte
Großloge von Deutschland eingegliedert, deren Berliner Distriktsloge sie heute bilden.
Das sogenannte »Coburger Abkommen« sicherte den Berliner VGL-Logen eine begrenzte
Eigenständigkeit, die von der Großen Loge Royal York in ritueller Hinsicht (die Logen
konnten weiter Tempelarbeiten unter Leitung eines eigenen Großmeisters abhalten) genutzt
wurde sowie als organisatorische und juristische Grundlage für Ansprüche auf Erstattung
des von den NS-Behörden und später von den Behörden Ost-Berlins sowie der DDR
beschlagnahmten beträchtlichen Vermögens der Großloge. Die Berliner Logen der ehemaligen
VGLiB wuchsen allmählich, aber durchaus nicht ohne Spannungen in die Vereinigte
Großloge von Deutschland hinein. Diese Spannungen hatten ihre Ursache nicht zuletzt in
einer von Berliner Seite aus als unbefriedigend empfundenen finanziellen Unterstützung
durch die VGL. So schrieb Br. Erich Rüdiger, der 1947 Großmeister der »Alten Pflichten«
geworden war und 1957 Großmeister von »Royal York« wurde, im Januar 1956 an Dr.
Werner Mohr, den zug. Großmeister der Vereinigten Großloge: »Ich mache mir große Sorgen,
nicht nur um das Geld, das uns zugesagt ist und das wir noch nicht haben, sondern
um das Ansehen der VGL … Br. Vogel soll einmal gesagt haben, dass die Berliner nur Geld
37 Erklärung der früher der Großen National-Mutterloge »Zu den dei Weltkugeln« angehörenden Tochterlogen
Westdeutschlands, Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0005.
38 Rundschreiben der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland, 1948/49, Archiv der Großloge
A.F.u.A.M., Altenburg.
39 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 546ff.
101
bekämen, wenn sie artig wären. Dieses Wort ist schon einige Jahre alt, aber es geistert jetzt
wieder herum.«40
Schließlich gehörten zu der Gruppe von Logen, die 1949 noch außerhalb der Vereinigten
Großloge geblieben waren, auch die auf deutschem Boden arbeitenden Logen von
Angehörigen der westlichen Besatzungsmächte (vor allem der in Deutschland stationierten
Amerikaner, Kanadier und Briten), die sich nach den Regeln des freimaurerischen Sprengelrechts
eigentlich der neuen Großloge hätten unterstellen müssen, diesen Schritt aber
hinausschoben, weil die Vereinigte Großloge erst einmal von den regulären Großlogen der
anderen Länder anerkannt worden sein musste. Ab Mitte der 1950er Jahre, als die internationale
Anerkennung der VGL bedeutende Fortschritte gemacht hatte und die Bundesrepublik
Deutschland im Rahmen außenpolitischer Bündnissysteme souverän geworden war,
traten die »Feldlogen« der Westalliierten sukzessiv der VGL bei. Deren Mitgliederzahl nahm
im Laufe dieser Entwicklung beträchtlich zu und erreichte 1958 mit 12.700 Mitgliedern
ihren Höhepunkt. In den 1960er Jahren entstanden als selbstständige Partnergroßlogen der
VGLvD die American Canadian Grand Lodge A.F. & A. M. (ACGL) sowie die Grandloge
of British Freemasons in Germany (GL BFG). Diese Verselbstständigung ließ nicht nur die
Zahl der Alten Freien und Angenommenen Maurer in der VGL und ihren Nachfolgegroßlogen
(von 1958–1971 Große Landesloge A.F.u.A.M. von Deutschland, danach Großloge
A.F.u.A.M. v.D.) stark zurückgehen, sondern ließ auch eine Großlogenstruktur in Deutschland
entstehen, die im Kontext der internationalen Freimaurerei ohne Beispiel ist.
Obwohl – wie aufgezeigt – nicht alle deutschen bzw. in Deutschland »arbeitenden« Logen
der VGL beigetreten waren, bleibt der Frankfurter Paulskirchentag von 1949 für die deutsche
Freimaurerei nicht nur das Ereignis, mit dem der historisch ersehnte Zusammenschluss vollzogen
wurde. Mit dem »Ereignis Paulskirche« wurde auch ein Symbol dafür geschaffen, dass
die deutsche Freimaurerei, wenn sie nur wollte, in der Lage war, über ihre bedrückenden historischen
Schatten zu springen. Die für diesen ersten wirklichen und weit reichenden Zusammenschluss
deutscher Freimaurer verantwortlichen Persönlichkeiten, vor allem der erste
VGL-Großmeister, Dr. Vogel, hatten es nicht nur verstanden, die Einheit der Mehrzahl der
deutschen Freimaurer in klug bedachten Schritten zu erreichen, sie verstanden es auch, die
Vereinigung in der Paulskirche so schwungvoll in Szene zu setzen, dass Deutschland in der
Weltbruderkette wieder wahrgenommen wurde und dass in den folgenden Jahren der Anschluss
der noch abseits stehenden Logen und Großlogen immer unausweichlicher wurde.
Theodor Vogel und seine Mitarbeiter nutzten geschickt alle moralischen, emotionalen, sachlichen
und maurerisch-institutionellen Vorteile, die ihnen der Zusammenschluss der Vereinigten
Großloge bot:41
• Die feierliche Einsetzung der »Vereinigten Großloge« in der Frankfurter Paulskirche war
mit ihren rund 700 Teilnehmern aus der deutschen und internationalen Freimaurerei
nach Form und Symbolgehalt so beeindruckend, dass die von ihr ausgehende Dynamik
die Entwicklung der deutschen Freimaurerei in den kommenden Jahren in starkem Maße
beeinflusste – freilich auch zu mannigfaltigen Illusionen Anlass gab.
40 Brief an Dr. Werner Mohr vom 16.1.1956, Archiv der Großen Loge Royal York, Berlin.
41 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 541f., dessen
Interpretation ich im Wesentlichen zustimmend übernehme.
102
• Die Gründung der »Vereinigten Großloge« entsprach einem alten Ziel vieler deutscher Freimaurer:
dem Zusammenschluss der deutschen Freimaurer in einer Großloge. Dies wurde
auch dadurch unterstrichen, dass der Großlogentag eine Reihe von freimaurerischen Gesetzen
des einstigen Deutschen Großlogenbundes im Juni 1949 wieder in Kraft setzte. Was
hierdurch gewonnen wurde, war ein erhebliches Maß an historisch begründeter Legitimität.
• Die Vereinigte Großloge dokumentierte durch ihre Gründung und durch ihre Struktur,
dass eine Vereinigung der deutschen Brüder über die Grenzen der unterschiedlichen freimaurerischen
Lehrarten möglich war, und setzte damit diejenigen Logen und Großlogen
unter Argumentationszwang, die sich dem Zusammenschluss nach wie vor verweigerten.
Insbesondere vielen Diskussionen in der Großen Landesloge war dieser Druck anzumerken.
• Da am Zusammenschluss von 1949 Tochterlogen von ausnahmslos allen früheren deutschen
Großlogen beteiligt waren, wurde das von manchen Großlogen in der Vergangenheit
immer wieder vorgebrachte Argument hinfällig, gerade ihre Lehrart verbiete einen
Zusammenschluss.
• Auf die Tatsache gestützt, dass sie Tochterlogen aller früheren deutschen Großlogen vereinigte,
nahm die Vereinigte Großloge von Anfang an für sich in Deutschland das ausschließliche
maurerische Sprengelrecht in Anspruch. Der Gründungsgroßlogentag stellte
nämlich ausdrücklich fest, »dass die VGL im Gebiete der freien deutschen Länder ihre
Jurisdiktion mit keiner anderen Macht teilt oder zu teilen gewillt ist«. Damit konnte die
Vereinigte Großloge von den meisten Großlogen der Welt als einzige Repräsentanz der
deutschen Freimaurerei anerkannt werden.
In diesem Sinne wurde seitens der VGL-Leitung im Anschluss an den Frankfurter Festakt mit
Stolz darauf verwiesen, seitens der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
bestünden nunmehr zu zahlreichen ausländischen Großlogen in Europa und Übersee Anerkennungsverhältnisse.
Insgesamt wurde mit dem »Paulskirchenereignis« von 1949 ein Gründungsmythos für
die Einigung der humanitären Freimaurerei in Deutschland begründet, dessen motivierende
Kraft freilich aus vielen Gründen nur unzureichend genutzt und mit der Gründung
der VGLvD im Jahre 1958 gar nachhaltig beschädigt wurde.
In diesem Zusammenhang ist auch auf den Beschluss der Masonic Service Association
(MSA) von Februar 1949 hinzuweisen, ein Komitee nach Deutschland zu entsenden »mit
dem Auftrag, sich über den gegenwärtigen Stand der deutschen Freimaurerei zu orientieren
und zur Weiterleitung an alle Großlogen in den USA diejenigen Tatsachen festzustellen, die
zur Klärung der Frage der Anerkennung der deutschen Freimaurerei beitragen könnten«.42
Der Besuch fand kurz nach der Paulskirchenfeier vom 17. bis 24. Juli 1949 statt. Der
Schlussbericht zeigt große Sympathie für das Bemühen der deutschen Freimaurer, die
einzelnen Logen und die Großlogenordnung wieder aufzubauen, trägt den großen Schwierigkeiten
Rechnung, der die Freimaurerei in Deutschland angesichts der Auswirkungen der
Verbotszeit und der großen Kriegsverluste gegenüberstand, macht aber auch einen Umstand
deutlich, der im folgenden Abschnitt eingehender zu erörtern ist: das beträchtliche
42 The Masonic Service Association: After Fifteen Years. Freimaurerei in Deutschland. Washington D.C.,
October 1949, zitiert nach der deutschen Übersetzung, München 1949, S. 6.
103
Ausmaß, in dem es den deutschen Gesprächspartnern gelang, den amerikanischen Brüdern
ihre spezifische Sichtweise nahezubringen. Als Beispiel hierfür mag folgender Abschnitt aus
dem Schlussteil des Berichtes dienen:
»Wenn man sich diese Lage klar vor Augen führt, so ist es fast unbegreiflich, wie die
Freimaurerei in Deutschland die 15 Jahre des Hitler-Regimes und den zweiten Weltkrieg
hat überleben können. Wir besitzen Informationen aus erster Hand über die
Leiden, die über unsere deutschen Brr. gekommen waren. Diese Brr. besitzen unsere
uneingeschränkte Sympathie. Fünfzehn Jahre lang haben sie in ständiger Lebensgefahr
geschwebt und haben Verfolgungen und KZ-Haft erduldet. Wir kennen persönlich
eine Reihe von Großbeamten dieser deutschen Großlogen, die in Konzentrationslagern
geschmachtet haben und dort vor ihren Mitmenschen und Freunden lächerlich
gemacht worden sind. Es ist nicht leicht, unter solchen Umständen ein Freimaurer
zu sein und zu bleiben.«43
Wurde so im Bericht der amerikanischen Brüder das Ausmaß der Verfolgung von Freimaurern
durch das NS-System übertrieben dargestellt44, so wurde gleichzeitig die nationalistischvölkische
Orientierung großer Teile der deutschen Freimaurerei nahezu vollständig ausgeblendet.
Gemäß der in Deutschland bis heute vorherrschenden Sprachregelung, die fehlende
»freimaurerische Einheit« sei Grund für die Schwäche der deutschen Bruderschaft angesichts
des Nationalsozialismus gewesen, stellt der Bericht fest:
»Führer der deutschen Freimaurerei lehnten alle Angebote der Anerkennung durch
US-Großlogen ab und wandten sich hartnäckig gegen den Vorschlag des Großmeisters
einer kontinentalen Großloge, Konferenzen herbeizuführen, in denen die bestehenden
Differenzen beigelegt werden sollten. Diese Unterlassungssünde der deutschen
Großlogen, zu einer freimaurerischen Einheit zu gelangen, war ohne Zweifel
43 Ebenda, S. 31.
44 Eine eingehende Analyse der Verfolgung und Benachteiligung von Freimaurern in der NS-Zeit steht
noch aus. Klar ist jedoch, dass freimaurerische Nachkriegsdarstellungen ihr Ausmaß übertreiben.
Beispielsweise kommt Jochen Schuster in einer als Kieler Dissertation durchgeführten Untersuchung
der beruflichen Folgen einer Zugehörigkeit zur Freimaurerei für Richter und Staatsanwälte in der NSZeit
zu folgendem Ergebnis: »Die Freimaurerei war zwar weltanschaulicher Gegner, die Gegnerschaft der
Denksysteme fand in den handelnden Personen jedoch im Regelfall bei weitem keine Entsprechung …
Eine generelle und massive Diskriminierung der Richter und Staatsanwälte konnte jedenfalls seitens der
Justizverwaltungen nicht festgestellt werden. Die wenigen Fälle, in denen sich eine spezielle Intervention
seitens der Parteidienstellen oder des Sicherheitsdienstes gegen einen Richter oder Staatsanwalt in den
ausgewerteten Akten nachweisen ließ, zeigten im Gegenteil, dass die Justizverwaltungen allen voran die
Präsidenten der Gerichte sich schützend vor ihre Beamten stellten. Im Verhältnis der Gerichtspräsidenten
zu ihren Beamten stand das tägliche Geschäft deutlich im Vordergrund gegenüber den politischen
Anforderungen durch Partei und Staat. Selbst ein Richter der eher schwach und unterdurchschnittlich
talentiert oder befähigt beurteilt wurde, hatte nicht mit Repressalien aufgrund seiner ehemaligen Zugehörigkeit
zur Freimaurerei zu rechnen.« Schuster, Jochen: Freimaurer und Justiz in Norddeuschland unter
dem Nationalsozialismus. Die beruflichen Folgen der Mitgliedschaft in Logen für Richter und Staatsanwälte,
Frankfurt am Main 2007, S. 161f.
104
die Kerbe, in die Hitler schlug und so die Macht ergreifen und zum unumschränkten
Diktator werden konnte.«45
Neben der vermittelten günstigen historischen Perspektive für die Jahre vor und nach 1933
war auch das Resultat des Besuchs für die internationale Reputation der neu gegründeten
Vereinigten Großloge äußerst erfreulich, konnte doch Großmeister Theodor Vogel in einem
Rundschreiben an die Stuhlmeister vom 25. Juli 1949 mitteilen:
»Die beiden Brr. Denslow und Lietz haben … ausdrücklich die Erklärung abgegeben,
dass sie die Vereinigte Großloge nicht nur als eine reguläre und rechtmäßig entstandene
Großloge von ger. und vollk. Freimaurerlogen erkennen, sondern auch als die
deutsche Großloge der Freimaurerei in den Westzonen betrachten. Freimaurerlogen
in den Westzonen werden also als irregulär behandelt werden, wenn sie nicht binnen
Jahresfrist der VGL beigetreten sind.«46
Es hat Gegenstand weiterer zeitgeschichtlicher Forschung zu sein, warum die von der VGL erreichte
starke internationale Position, die auch im zitierten Resultat des Besuchs des MSA-Komitees
deutlich Ausdruck findet, sich nicht prägender auf die Struktur der im Jahre 1958 gegründeten
Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD), ausgewirkt
hat. Arbeitshypothetisch scheint erneut die Frage auf, ob nicht – nicht zuletzt aufgrund
der inzwischen erreichten international starken Position der VGL von 1949 – Möglichkeiten bestanden,
zu einer wirklich leistungsfähigen Großlogenstruktur zu gelangen und ob nicht diese
Möglichkeiten aufgrund noch zu analysierender Ursachen bedauerlicherweise vertan wurden.
Zur organisatorischen Neugestaltung der Großlogenordnung und zur Regelung der Beziehungen
zwischen der deutschen Bruderschaft und der Weltbruderkette gehörte schließlich
auch der Abschluss von Konkordaten47 zwischen der Vereinigten Großloge und Vertretern
der sogenannten Hochgradfreimaurerei,48 wie sie auch schon seitens einer Reihe
von Landesgroßlogen abgeschlossen worden waren. Treibende Kraft für den Abschluss von
Konkordaten mit den Hochgradsystemen war wiederum der spätere VGL-Großmeister Dr.
Vogel und zwar bereits in seiner Zeit als Großmeister der Großloge »Zur Sonne«. Vogels
Motiv war nicht nur das Bestreben, möglichst rasch Anschluss an die Weltfreimaurerei –
insbesondere die Freimaurerei der USA – zu gewinnen, zu der auch die Hochgradsysteme
gehörten, sondern auch die Absicht, die Position der von ihm vertretenen Freimaurerei
gegenüber der »Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland« zu stärken. In diesem
Sinne schrieb Vogel am 8. August 1948 an die »Große Loge von Hamburg«:
»Der Abschluss des Konkordates mit dem A.A.S.R. ist für den Aufbau der Freimaurerei
von einer gewissen logenpolitischen Bedeutung. Wir schaffen damit das Gegen-
45 The Masonic Service Association: After Fifteen Years, a.a.O., S. 7.
46 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
47 Zu Texten von Übereinkommen mit dem »Deutschen O.R. des AASR«, den »Schottenlogen und
Erkenntnisstufen
« sowie dem »Rat der Inneren Oriente« s. Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums
Bayreuth, 4756.
48 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 552ff., S.
556ff.
105
gewicht gegenüber der Großen Landesloge, schaffen damit die ausländischen Verbindungen,
die wir benötigen, und schaffen vor allem eine klare Grundlage, die auch
für die Zusammenarbeit mit den Hochgraden der Großen Landesloge den künftigen
Weg andeutet …«49
Durch die Konkordate sollte den Brüdern der deutschen Logen die Möglichkeit zur Mitarbeit
im »Schottischen Ritus« und einigen anderen Hochgradsystemen eingeräumt werden.
Hierzu gewährte die Großlogenverfassung »das Recht der Mitarbeit in Erkenntnisstufen und
Hochgraden, soweit deren Verhältnis zur Johannisfreimaurerei geregelt ist«. Dieses Recht zu
gewähren, konnte freilich nur heißen, keine Bedenken gegen eine solche Mitarbeit zu haben,
denn bei der Freiheit der Mitgliederauswahl, die sich die Hochgradsysteme vorbehielten –
und ihrem Selbstverständnis nach auch vorbehalten mussten – konnte die Großloge Rechtsansprüche
auf Hochgradmitarbeit für die Mitglieder ihrer Johannislogen ja gar nicht durchsetzen.
Auch zeigte sich sogleich, dass nicht alle Logen bereit waren, Hochgradmitgliedschaften
zuzulassen. So wurde, um die Einheit der Großloge zu wahren, in die Großlogenverfassung
ein Passus aufgenommen, demzufolge jede Loge »in ihrem Hausgesetz … durch
die Gesamtheit ihrer Mitglieder den Verzicht auf das (gewährte) Recht aussprechen« kann.
Sinnvoll, praktikabel und bis heute gültig hat dann die Verfassung der Großen Landesloge
A.F.u.A.M. im Jahre 1964 jeder Tochterloge der Großloge die Möglichkeit eingeräumt, in
ihren Hausgesetzen mit satzungsändernder Mehrheit für alle ihre Mitglieder die Annahme
von Hochgraden zu untersagen. In der Praxis haben nur wenige Logen von dieser Möglichkeit
Gebrauch gemacht, und die Großloge ist aufs Ganze gesehen mit dieser Regelung gut
gefahren.
2.3 Die Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der
Freimaurer (1958)
Im Rahmen des Abschnittes »Neue Großlogenordnung« erscheint es sinnvoll, den Zeitrahmen
der Betrachtung bis zur Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft
der Freimaurer (VGLvD) im Jahre 1958 auszuweiten, die entgegen hochgespannter
Hoffnungen und in deutlichem Unterschied zur Gründung der VGL von 1949 die Erwartungen
vieler deutscher Freimaurer nicht erfüllt hat, freilich vorwiegend solcher in der GL
A.F.u.A.M. Die VGLvD sind zwar kraft der ihnen in ihrer, in übertriebener Bedeutsamkeit
»Magna Charta« genannten Satzung zugeschriebenen Hauptfunktion Träger der internationalen
Beziehungen der deutschen Freimaurerei. Sie haben aber aufgrund der festgeschriebenen
starken Stellung der Partnergroßlogen – erst nur GL A.F.u.A.M. und Große Landesloge,
später kamen die GNML »3WK«, die American Canadian Grand Lodge A.F.&A.M. und
die Grand Lodge of British Freemasons in Germany hinzu – keine wirklichen Möglichkeiten,
den Logen dynamische Impulse zu vermitteln und die deutschen Freimaurer konzeptionell
zusammenzuschließen. Sie spielen, nicht zuletzt aufgrund der vorwiegend akklamatorischen
Funktion ihrer Hauptversammlung (des Konvents) kaum eine Rolle im brüderlichen Diskurs
und verfügen (nach der Einstellung der »Bruderschaft« als Organ der VGlvD) nicht einmal
über eine eigene Zeitschrift, die Plattform für Kommunikation und Gedankenaustausch sein
49 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 552.
106
könnte. Ihre Entscheidungsmechanismen sind sperrig, stets blockadegefährdet, finanziell
aufwendig und entsprechen in keiner Weise den organisatorischen und funktionalen Anforderungen,
die an eine – legt man international übliche Maßstäbe an – »normale Großloge«
zu stellen sind. Freilich sind die VGLvD – teils wegen, teils trotz wechselnder Senatskoalitionen
der Partnergroßlogen – institutionell stark genug, um dynamische Initiativen, die aus
der deutschen Bruderschaft hervorgehen, immer wieder auszubremsen.
Über die Gründe, die zu dieser »unvollendeten«, in vielerlei Hinsicht verkrusteten Organisation
geführt haben, können gegenwärtig nur Hypothesen angeboten werden, die
bei zukünftigen Forschungsvorhaben zur Zeitgeschichte der deutschen Freimaurerei mit
Fakten und Analysen zu konfrontieren sind:
Der Schwung, mit der die VGL von 1949 erreicht werden konnte, weckte bei den Brüdern
dieser Großloge Hoffnungen, die eine »echte« deutsche Großloge werden schon kommen,
wenn erst einmal ein Anfang gemacht worden sei, und veranlasste sie zu zahlreichen
Vorleistungen. So wurde eine Reihe von Großlogen-Ausschüssen aufgelöst und die von
der VGL verliehenen
Auszeichnungen (darunter die Paulskirchen- und die Bernhard-Beyer-
Medaille) auf die VGLvD übertragen. Zugunsten der neuen – später wieder eingestellten
– VGLvD-Zeitschrift »Bruderschaft« wurde auf ein eigenes Periodikum
verzichtet, und man
erörterte sogar, die Preise der GL A.F.u.A.M. (Literaturpreis,
humanitärer Preis) auf die
VGLvD zu übertragen.
Ein Grund für diesen Vorleistungskurs der VGL war, dass sie sich zu sehr als »Großloge
im Übergang« verstand, um eine als Basis für eine dynamischen Eigenentwicklung geeignete,
dauerhafte konzeptionelle Identität zu entwickeln, wie sie für die Große Landesloge
der Freimaurer von Deutschland historisch gegeben war. Ein eigenes AFuAM-Ritual, das
identitätsstiftend hätte wirken können, wurde erst ab Mitte der 1960er Jahre geschaffen.
Man fühlte sich in der alten VGL quasi unvollständig und brachte dies auf den Großlogentagen
nach 1958 in Diskussionsbeiträgen und in Anträgen immer wieder zum Ausdruck.
Es entstand die paradoxe Situation, gerade unter dem Dach der 1958 begründeten VGLvD,
die fehlende wirkliche Einheit schmerzlich zu vermissen. Noch 1979 hieß es in der Erinnerungsschrift
für Theodor Vogel:
»Die GLL-FO hielt an ihrem Wunsch fest, die Eigenständigkeit zu bewahren. Die GL
A.F.u.A.M. musste es deshalb hinnehmen, dass ihr Ziel, die eine und einzige deutsche
Großloge, nicht verwirklicht werden konnte.«50
Weiter mag eine Rolle gespielt haben, dass die Leiter der VGL um Großmeister Theodor Vogel
als die gleichsam endgültigen Einiger der deutschen Freimaurerei in die masonische Geschichte
eingehen wollten, auch wenn das Resultat der Einigung nicht dem internationalen
Standard einer »echten« Großloge entsprach. Immerhin kam Theodor Vogel die Ehre zu,
als erster Großmeister der VGLvD das Vereinigungswerk national und international zu repräsentieren.
Nicht zuletzt aber war von großer Bedeutung, dass sich der internationale Druck – vor
allem auf und nach der Londoner
Großmeisterkonferenz vom Sommer 1957 – als zu stark
erwies, um ihm auf Dauer widerstehen
zu können, obwohl es hierfür gute maurerische
50 In memoriam Theodor Vogel, a.a.O., S. 24.
107
Gründe gegeben
hätte. Die »Vereinigte Großloge von England«, die sich offenbar einer
kräftigen Einflussnahme seitens der schwedischen Großloge ausgesetzt sah, lud die beiden
deutschen Großlogen zu einer Großmeisterkonferenz nach London ein, die dann am
14. Juni 1957 stattfand. Die anwesenden Großmeister,
unter ihnen auch die Vertreter der
skandinavischen Großlogen, denen sich die »Große Landesloge« auf Grund der gemeinsamen
freimaurerischen
Lehrart besonders verbunden fühlte, drängten die beiden deutschen
Großlogen, sich nun doch endlich zu einigen, ein Wunsch, den der Großkanzler der
»Großen Landesloge von Schweden«, von Heidenstam, in die Worte kleidete:
»Ihr müsst Euch einigen, Ihr Alten Freien und Angenommenen
Maurer und Ihr von
der Großen Landesloge unseres Systems.
Um der Jugend, um der Zukunft willen.«
Der schwedische Großkanzler mag nicht zuletzt auch an die Zukunft der Großen Landesloge
gedacht haben, für die nur innerhalb der VGLvD eine umfassende internationale Anerkennung
erreichbar war.
Es ist in diesem Zusammenhang äußerst aufschlussreich, wie der damalige Großsekretär der
»Vereinigten Großloge von England«, Sir James Stubbs, die Londoner Konferenz und ihre
Auswirkungen in seinen maurerischen Lebenserinnerungen beschrieben hat:
»The raison d‘être of the conference in the Summer of 1957 was to bring the hostile
sects together, if by no other means than telling their leaders that there was not going
to be full recognition of German Masonry till that happened. In a sense the humanitarians,
the United Grand Lodge of Germany (NB the singular is important) were
sitting pretty: it was led by Dr Theodore Vogel who had a considerable following in
his own and other countries and they had shown much more elasticity of mind than
the stubborn successors of the Prussian Grand Lodges with the almost equally stubborn
Scandinavians in support. The Scandinavian Grand Lodges themselves, secure
in their own system, were not particularly anxious about recognition outside their
immediate circle. It came therefore as quite a surprise that the leading figure in that
conference should be the Swedish Chancellor, Count Rolf von Heidenstam, who
displayed a real talent for negotiation which brought the two German parties much
closer to each other than ever before … The next we heard of their relations was the
publication of a tortuous document entitled ›Magna Charta‹, which was designed,
if all parties could be got to accept it, to produce a kind of super Grand Lodge, or
more realistically an umbrella under which they could all shelter without loss of
independence.«51
Stubbs war sich der Abweichungen von den international üblichen Großlogenstrukturen
wohl bewusst, wenn er die VGLvD als »umbrella« bezeichnete, eine Organisation »which,
with full power of foreign relations, was sufficientliy close to the normal concept of a Grandloge
for it to be capable of recognition ...«.52
51 Stubbs, J. W.: Freemasonry in my Life, Frome and London 1985, S. 84f.
52 Ebenda, S. 94f.
108
Der Hinweis des Großsekretärs der Vereinigten Großloge von England auf die günstige Position
der Vereinigten Großloge von Deutschland und die beträchtliche Anhängerschaft ihres
Großmeisters Theodor Vogel im In- und Ausland (»sitting pretty«) legt freilich den Schluss
nahe, dass man sich dem Ansinnen der skandinavischen Großlogen trotz allen Drucks wohl
doch hätte entziehen können, wenn nicht die zuvor genannten anderen Gründe eine so große
Rolle bei der Entscheidungsfindung auf Seiten der VGL (Singular) gespielt hätten.
Die Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland nützte jedenfalls vor allem
der Vereinigten Großloge von England, die auf diese Weise aus einem schwerwiegenden
»Anerkennungsdilemma« herauskam, das darin bestanden hatte, nur eine deutsche Großloge
anerkennen zu wollen, mit der Wahl der den Prinzipien der Weltfreimaurerei entsprechenden
Vereinigten Großloge aber den Schwedischen Freimaurerorden hätte frustrieren
müssen, und sie nutzte den heutigen VGLvD-Partnern, der Großen Landesloge und insbesondere
der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«. Denn Letztere konnte
vermutlich nur auf diese Weise ihren Status als unabhängige Großloge sichern. Der Preis
für die gewählten Regelungen ist, dass die mit den »Vereinigten Großlogen von Deutschland
« entstandene »gemeinsame nationale Ordnung« in der Tat nur einen »umbrella« darstellt,
dessen eigentliches Stukturprinzip – »no loss of independence« – für ausländische
Großlogen zwar »ausreichend nahe am Konzept einer Großloge« gewesen sein mag, um
Anerkennung zu finden (James Stubbs), aber kaum zu einer wirklichen, international üblichem
Großlogenverständnis entsprechenden und hinreichend funktionsfähigen Großloge
geführt hat.
Eine Vernunftehe sei keine Liebesheirat, hat der Alt-Großmeister der GL A.F.u.A.M.,
Jens Oberheide, einmal vermerkt. Dem Nachdenken darüber, ob es sich bei »Vernunftehen«
nicht auch um »Unvernunftehen« handeln könnte, stehen freilich viele Reflexionsschwierigkeiten
und Tabus innerhalb des Bundes im Wege. Doch kann wohl nicht ernsthaft
bezweifelt werden, dass das Positive an der deutschen Freimaurerei, die Zusammenarbeit
der Logen und die Freundschaft der Brüder auch ohne das »tortuous document entitled
›Magna Charta‹« mit weit weniger Aufwand und institutionellen Bremsen erreicht werden
könnte. Mit anderen Worten: Was funktioniert, ist die »VGLvD von unten«, die »VGLvD
der Brüder«, die allenfalls vernünftiger und kostengünstiger Rahmenvereinbarungen, kaum
aber der aufwendigen organisatorischen Strukturen und frustrierenden Selbstblockaden der
»offiziellen« VGLvD bedürfte.
3. Zurück zur Weltfreimaurerei: Konzeptionelle Neuorientierung
Die dritte Aufgabe der Nachkriegsfreimaurerei bestand darin, die deutsche Freimaurerei, die
nach dem Ersten Weltkrieg bis 1933/35 in starkem, im Laufe der Zeit zunehmendem Maße
völkisch geprägt gewesen war und sich von der Grundlage der »Alten Pflichten« gelöst hatte,
auf eine neue, den Prinzipien der Weltfreimaurerei entsprechende konzeptionelle Grundlage
zu stellen, die Auseinandersetzung mit dem NS-System und der eigenen völkischen Vergangenheit
offensiv zu führen und ehemalige dezidierte Nationalsozialisten von der Bruderschaft
fernzuhalten. Im Unterschied zu den anderen Handlungsebenen der deutschen Freimaurerei
nach 1945 kann im Hinblick auf die beiden zuletzt genannten Aspekte nur mit
Einschränkungen von Erfolg gesprochen werden.
109
Was die konzeptionelle Neuorientierung der deutschen Freimaurerei betrifft, die vor
allem in ihren zahlenmäßig dominierenden »altpreußischen« Bestandteilen vor dem NSVerbot
immer wieder ihre Unterschiede zur Weltbruderkette der »Alten Pflichten« betont
hatte und deren führende Repräsentanten schließlich erklärten, überhaupt keine Freimaurer
mehr im Sinne der Weltfreimaurerei zu sein, so erwies es sich nach 1945 als hilfreich und
positiv, dass neben dem organisatorischen Wiederaufbau auch die konzeptionelle Ausgestaltung
der neuen deutschen Großlogenlandschaft vor dem Hintergrund von Reformorientierung
und liberaler Tradition der Bayreuther Großloge »Zur Sonne« sehr wesentlich
von deren letztem Großmeister, Dr. Theodor Vogel, bestimmt wurde. Als sich die Großloge
»Zur Sonne« am 1. Mai 1948 in Erlangen feierlich zur Großloge der Freimaurer für
Bayern erklärte, wurde eine Konstitutionsurkunde beschlossen, in der »die alten Pflichten,
veröffentlicht im Jahre 1723 in dem englischen Konstitutionsbuch sowie die alten Landmarken,
veröffentlicht im Jahre 1806 von unserem Br. John Mackay« zur Grundlage ihrer
Arbeit erklärt wurden. Formulierungen dieser Art durchziehen die Veröffentlichungen von
Brüdern, Logen und Großlogen in der Nachkriegszeit. Die konzeptionelle Rückkehr der
deutschen Freimaurerei in die Weltbruderkette der alten, freien und angenommenen Maurer
war zumindest für die Freimaurer der späteren Vereinigten Großloge von Deutschland
zum allgemein akzeptierten Konsens geworden. In Artikel 2 der Verfassung der VGL vom
19. Juni 194953 hieß es dann auch folgerichtig:
»Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit sind den Freimaurern höchstes Gut.
Die Freimaurer nehmen daher ohne Ansehen des religiösen Bekenntnisses, der Rasse,
der Staatszugehörigkeit, der politischen Überzeugung und des Standes vorurteilsfreie
Männer von gutem Rufe als Brüder auf.«
Auf dem Großlogentag 1953 in Lüneburg wurde eine Erklärung beschlossen, die grundlegende
Gestaltungs- und Verfahrensprinzipien der VGL in Übereinstimmung mit den Grundsätzen
der universellen Freimaurerei brachten: Eine solche Ausformulierung wurde für erforderlich
erachtet, »weil immer noch Vorstellungen aus der Zeit der früheren Großlogen, aus
denen die einzelnen Logen stammten, im Umlauf waren«54.
Der Beschluss lautete:55
1. In allen der VGL angeschlossenen Bauhütten werden die Arbeiten in Verehrung vor dem
Großen Baumeister der Welt geöffnet und geschlossen.
2. Während der Arbeit liegt die Bibel als Buch des Heiligen Gesetzes offen auf.
3. Die VGL weiß sich mit dem Schicksal des deutschen Volkes verbunden, enthält sich aber
jeglicher Stellungnahme zu Fragen der Politik. Sie schließt alle religiösen und konfessionellen
Streitfragen von den Logenzusammenkünften aus.
53 Vereinigte Großloge von Deutschland: Verfassung und Gesetze, in: Freimaurerische Schriftenreihe Nr. 5,
hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft frm. Verleger (ohne Jahr und Ort).
54 Oberheide, Jens (Hrsg.): Woher, Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die Geschichte
der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002, S. 66.
55 Ebenda.
110
4. Die VGL ist eine souveräne, unabhängige Körperschaft. Sie untersteht keiner Kontrolle
irgendwelcher anderer Körperschaften. Mit solchen kann sie nur auf Grund von freien
Vereinbarungen zusammenarbeiten.
5. Für die Anerkennung ausländischer Großlogen und die Aufrechterhaltung freimaurerischer
Beziehungen mit diesen stellt die VGL die Bedingung, dass sie mit diesen Grundsätzen
übereinstimmen.
Neben der konzeptionellen Rückkehr der deutschen Freimaurerei in die Weltbruderkette
und ihrer festen Verankerung auf der Grundlage der alten Pflichten und Landmarken hielten
viele Freimaurer nach 1945 eine Klärung des alten deutschen Dualismus »christliche« und
»humanitäre« Freimaurerei für erforderlich. Dies galt vor allem für die Brüder der ehemaligen
3WK- und Royal-York-Logen, die sich der VGL anschließen wollten.
Als hilfreich erwies sich hier eine Formulierung des Frankfurter Freimaurers Emil Selter,
der später Großredner der VGL wurde:
»In der Freimaurerei verhalten sich das humanitäre und das christliche Prinzip wie
konzentrische Kreise, von denen der humanitäre den größeren Durchmesser hat.
Humanitäre Freimaurerei schließt alle Menschen und nicht zuletzt die Christen ein,
christliche Freimaurerei schließt aber alle Nichtchristen aus.«
Selter hielt zahlreiche Vorträge, insbesondere in den Logen früherer »altpreußischer« Großlogen
– ausgenommen Logen der Großen Landesloge – und war nicht ohne Einfluss auf die
Integration dieser Logen in die Vereinigte Großloge.
4. Ein neues Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit
Die Beziehungen zwischen der Freimaurerei auf der einen und Gesellschaft sowie Politik auf
der anderen Seite waren im Deutschland der Nachkriegszeit und in der späteren Bundesrepublik
durch freundliche Koexistenz geprägt, ohne dass die Freimaurerei größere Beachtung
gefunden hätte. Beginnend mit den führenden »Freimaurern der ersten Stunde«, die sich
um den Einiger der deutschen Bruderschaft und ersten Großmeister sowohl der Vereinigten
Großloge von 1949 als auch der Vereinigten Großlogen von 1958, Theodor Vogel, geschart
hatten, wurden Beziehungen zum politischen Establishment gepflegt, Repräsentanten der
Politik zu freimaurerischen Veranstaltungen geladen, Vogel selbst zum Gespräch mit Bundeskanzler
Konrad Adenauer geladen.
Die gelegentliche Mitgliedschaft von Bundes- und Landtagsabgeordneten, Kabinettsmitgliedern
in Bund und Ländern, führenden Verbandsvertretern, Hochschullehrern sowie
generell
Repräsentanten der bürgerlichen Oberschicht signalisierte eine verlässliche
Vertrauensgrundlage
für die Freimaurerei. Die traditionellen Werte des Bundes (Humanität,
Brüderlichkeit,
Toleranz) entsprachen dem Wertekonsens der neuen deutschen Republik,
und die nun wiederum ins öffentliche Bewusstsein gehobenen Beziehungen der kulturellen
Elite Deutschlands zur Freimaurerei – von Lessing über Goethe bis zu Ossietzky und Tucholsky
– trugen ebenso zur Akzeptanz bei wie wiederum auch hier die Wahrnehmung von
Verfolgung und Verbot in der NS-Zeit als einer widerständigen Qualität.
111
Das politisch-gesellschaftliche Selbstverständnis der VGL wurde auf dem Großlogentag
in Bad Ems am 15. Juni 1951 in der folgenden Erklärung zum Ausdruck gebracht:56
»Die zum dritten Großlogentag der Vereinigten Großloge in Bad Ems versammelten
Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland bekennen sich nachdrücklich
zu den in den Alten Pflichten niedergelegten Grundsätzen unserer Bruderschaft.
Angewandt auf die gegenwärtige Lage unseres deutschen Volkes und der Welt
erstehen daraus für uns folgende Verpflichtungen:
I. Wir wollen das geistige Leben in unseren Bauhütten, die mehr noch als bisher zu
einem
Hort brüderlichen Zusammenhaltens und gedanklicher Sammlung werden
müssen,
verstärken und vertiefen. Wir wollen insbesondere die Antworten auf die
vielfältigen
Fragestellungen unserer Zeit finden und den Brüdem wie den Suchenden
einen
besseren Weg zur Meisterung des Lebens weisen.
II. Wir wollen im Dasein unseres Volkes und seines Staates, seiner Kultur und seiner
Geschichte wirken. Wir wollen dabei die in der Abgeschlossenheit unserer Bauhütten
gepflegten und erarbeiteten Gedanken unbeirrt in die Tat umsetzen.
III. Wir wollen mit gesteigerter Kraft allen Mächten und Gewalten entgegenwirken,
die mit totalitären Ansprüchen Leben und Freiheit der Menschen bedrohen. Für
diese Ziele vertiefen wir die Zusammenarbeit mit unseren Brüdern und Freunden
in aller Welt. In diesem Geist sind wir bereit, uns mit allen um die Erhaltung der
abendländischen
Kultur kämpfenden Kräften zu verbünden.«
Freilich blieb es eine bis in die Gegenwart offene Frage, auf welche Weise dieses Wirken »im
Dasein unseres Volkes und seines Staates, seiner Kultur und seiner Geschichte« sowie das unbeirrte
Umsetzen der »in der Abgeschlossenheit unserer Bauhütten gepflegten und erarbeiteten
Gedanken … in die Tat« praktisch zu realisieren waren.
Breit war schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg – und ist es, von Ausnahmen abgesehen,
bis heute geblieben – die Akzeptanz der Logen auf lokaler Ebene. Die starke
Verwobenheit von Freimaurern in die örtliche Geschichte, die allein schon ein Blick auf
die Straßenschilder mit den zahlreichen Namen prominenter Mitglieder sichtbar machte,
verschaffte den Freimaurern geneigte öffentliche Umfelder und den Bürgermeistern Stoff
für anerkennende Grußbotschaften.
Unproblematisch, wenn auch nicht gerade herzlich, war das Verhältnis zur evangelischen
Kirche. Insbesondere die christlich orientierte Große Landesloge konnte auf die
eine oder andere Weise an die Tradition des deutschen Kulturprotestantismus anknüpfen.
Die Beziehungen zur katholischen Kirche blieben zunächst gespannt. So schrieben
etwa die »Aachener Nachrichten« am 13. April 1950:
Ȇber ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus befragt, sagte Kardinal Frings
(der Kölner Erzbischof), daß heute auf viel grössere Gefahren geachtet werden müsse.
›Denken Sie nur an den Kommunismus, der hier nicht unser einziger Feind ist. Das
56 In memoriam, a.a.O., S. 18.
112
Freimaurertum rührt sich wieder gewaltig und was die Zeitschriften, besonders die
importierten, an Asphaltgeist bringen, ist wirklich entsetzlich.‹«57
Freilich zeichnete sich in den folgenden Jahren eine gewisse Akkommodierung mit der katholischen
Kirche ab. Es fanden klärende Gespräche und Annäherungen statt, bis die »Unvereinbarkeitserklärung
« der deutschen Bischofskonferenz von 1980 die Hoffnung auf eine
endgültige Überwindung alter Feindseligkeiten zunichte machte.58
Das Bild, das die deutsche Presse von der Freimaurerei zeichnete, war nicht ohne
Ambivalenz. Seit den 50er Jahren sind in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften
zahlreiche, oft opulent bebilderte Artikel59 erschienen, die sich zwar meist wohlwollend
von traditionellen Vorurteilen und Verdächtigungen abgrenzten, historische Verdienste
von Freimaurern und soziale Leistungen der Logen anerkannten, gleichzeitig
aber fast regelmäßig auch von kritischer (oft auch amüsiert-ironischer) Distanz und
Urteilsunsicherheit geprägt waren. Fast routinemäßig wurden Zweifel artikuliert, ob die
Freimaurerei in Anbetracht so klarer und vernünftiger Wertbekenntnisse immer noch
so viel rituell-inszenatorischen Aufwand betreiben müsse. Diese Zweifel wurden durch
das verwendete, in der Regel mit Billigung der Logen erstellte Bildmaterial eher verstärkt:
Dunkelheit, brennende Kerzen, schwarze Anzüge, Zylinder und Maurerschurze
transportierten Eindrücke, die dem Charakter des freimaurerischen Rituals als eines in
die Logengruppe eingebetteten Gesamtvorgangs nicht entsprachen und Perzeptionen
zwischen mystisch-magisch und biedermännisch-altmodisch geradezu aufdrängten. Die
Freimaurer standen plötzlich vor dem Problem, gerade durch ihre Informationsbereitschaft
in nicht unerheblichem Maße zur Verbreitung von Fehlinformationen beizutragen.
Heftige Diskussionen in den Logen und Großlogen waren die Folge. Später
entschied der Senat der »Vereinigten Großlogen von Deutschland«, Bilder und Filmaufnahmen
von rituellen Vorgängen zukünftig nicht mehr zur Veröffentlichung zuzulassen.
60
Andererseits war Logen und Großlogen bewusst, dass die deutsche Freimaurerei ein
neues Verhältnis zur Öffentlichkeit herzustellen hatte. Bereits die Gründung der Vereinigten
Großloge von Deutschland im Juni 1949 war mit einer öffentlichen Vortragsveranstaltung
verbunden61, und später wurden unter handlichen Formeln wie »Flagge zeigen« und »Wir
stellen uns der Zeit« gar regelrechte »Kommunikationsappelle« erlassen. Die deutsche Freimaurerei
verstand sich zunehmend als Bestandteil der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft,
und dies bedeutete zugleich, sich ihres Platzes in eben dieser Gesellschaft zu
versichern und sich ihrer sozialen Umwelt verständlich zu machen.
57 Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
58 Darstellung und Wiedergabe von Dokumenten in: Holtorf, Jürgen: Die Logen der Freimaurer, Hamburg
o. J. (1991), S. 110ff.
59 Beispielhaft: Der Spiegel, 15, 1963: Titelgeschichte Freimaurer: Brüder im Schurz; Kristall, 10, 1964: Die
Königliche Kunst. Freimaurerei in Deutschland; Epoca 9 (1967): 250 Jahre Freimaurertum. Ein Weltbund
der Menschlichkeit; ZEITMAGAZIN, 44, 1975: Maurer für das Schöne, Gute und Wahre; GEO 2
(1988): Freimaurer in Deutschland. Ehrenmanns Bruderbund.
60 Der »Fall GEO«, in: Humanität, Nr. 2, 1988, S. 4ff.
61 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg.
113
5. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit:
Teilbekenntnisse, Erinnerungsscham und Verdrängung
Als fünfte Aufgabe der deutschen Nachkriegsfreimaurerei war die kritische Auseinandersetzung
mit völkischer Orientierung und opportunistischer Haltung gegenüber dem NS-System
bei beträchtlichen Teilen der deutschen Freimaurerei vor 1933/35 bezeichnet worden.
Da ich hierüber ausführlich im Schlussabschnitt des vorigen Beitrags berichtet habe, genügt
an dieser Stelle der Hinweis auf meine dortige Beschreibung und analytische Erörterung.62
6. Zusammenfassung und Ausblick
Misst man die Entwicklung der deutschen Freimaurerei in den Jahren von 1945 bis 1950
bzw. 1958 am Grad der Erfüllung der am Anfang dieses Beitrags genannten fünf Hauptaufgaben
(Sammlung der Brüder und Wiedergründung der Logen; Herstellung einer neuen
und leistungsfähigen Großlogenordnung; konzeptionelle Neuorientierung der deutschen
Freimaurerei; Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Freimaurerei, Politik und Gesellschaft
sowie kritische Auseinandersetzung mit völkischer Orientierung vor und nach 1933),
so konnten, bis auf die zuletzt genannte Aufgabe, gewiss beträchtliche Erfolge erreicht werden.
Gleichzeitig waren allerdings auch zahlreiche Defizite zu verzeichnen, die sich bis in
die Gegenwart fortsetzen.
Die Brüder, welche die Katastrophe von Verbot und Zweitem Weltkrieg überlebt hatten,
fanden sich schnell zusammen und gingen mit großem Schwung an die Wiedergründung
der Logen. Westliche Besatzungsmächte und ausländische Großlogen unterstützten
die Renaissance der deutschen Freimaurerei in Westdeutschland, während die sowjetische
Besatzungsmacht und die sich bald etablierenden kommunistisch dominierten deutschen
Behörden einen Wiederaufbau im Osten Deutschlands verhinderten.
Die Mehrheit der deutschen Freimaurer ließ die national-völkischen Konzeptionen
der Vorverbotszeit hinter sich und ordnete sich ideell und organisatorisch in die Weltbruderkette
der in der Tradition der »Alten Pflichten« stehenden symbolisch-moralischen
Freimaurerei ein. Die Auseinandersetzung mit dem auf tragische Weise in die Irre gehenden
Denken und Handeln deutscher Freimaurer in den 1920er und frühen 1930er Jahre erfolgte
jedoch allzu zögerlich und schönfärberisch und war mehr auf die Bildung neuer Mythen
als auf die Anerkennung historischer Wahrheiten angelegt.
Die neue Großlogenordnung stand im Zeichen der Vereinigten Großloge der Freimaurer
von Deutschland, VGL und wurde in starkem Maße durch ihren charismatischen Großmeister,
Dr. Theodor Vogel, bestimmt. Der Zusammenschluss der deutschen Freimaurer
blieb durch das Abseitsstehen der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland
allerdings unvollendet
und ist es – dies zeigt die Entwicklung der 1958 geschaffenen Vereinigten
Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD) – bis heute
geblieben.
62 Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die national-völkische Orientierung innerhalb
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
in diesem Band, S. 51–87, insbesondere S. 75–87.
114
Die kräftigen Impulse der Nachkriegsfreimaurerei verebbten freilich nicht nur aufgrund
der skizzierten organisatorischen Probleme. Auch der Zeitgeist war der Freimaurerei spätestens
seit Mitte der 1960er Jahre nicht günstig. Dies liegt weniger an dem, was man das
»Syndrom 1968« nennen könnte, obwohl sich auch dieses eher negativ auf die Freimaurerei
ausgewirkt hat. Erklärungskräftiger sind die Strukturen der »postmodernen« Gesellschaft
mit ihrer Event- und Multioptionskultur sowie ihrem Trend zu geringerer sozialer Einbindung,
worunter alle gesellschaftlichen Gruppierungen leiden.
Wem diese Überlegungen nicht genügen, um das jahrzehntelange Pendeln der Gesamtzahl
der deutschen Freimaurer um international äußerst bescheidene 12–14.000 Brüder
zu erklären, der sei schließlich auf den weiteren Umstand verwiesen, dass im Frühjahr
1945 zwar die politische Unterdrückung durch die NS-Herrschaft hinfällig geworden war,
dass aber nach wie vor die auch von den Nationalsozialisten errichtete Vorurteilskulisse
wirksam blieb. Die lange Gegnerschaft seitens der katholischen Kirche, die Relikte des mit
kirchlicher Verurteilung der Freimaurerei verbundenen Volksaberglaubens, die politischen
Verbote unter Nationalsozialismus und Kommunismus, schließlich die in immer neuen Varianten
auftretenden »Verschwörungstheorien« mit ihren gegen die Freimaurerei gerichteten
pathologischen Fixierungen, machten es der Freimaurerei in Deutschland auch nach ihrer
Wiederbegründung schwer, mit gelassener Selbstverständlichkeit und durch quantitatives
Wachstum sowie durch gesellschaftliche und intellektuelle Qualität in der deutschen Gesellschaft
präsent zu sein.
115
Habitus, soziales Feld, Kapital –
Freimaurerei im Lichte der Soziologie Pierre
Bourdieus
1. Freimaurerforschung auf der Suche nach neuen Paradigmen
Freimaurerische Forschung ist traditionell vor allem historische Forschung gewesen. Auch
die Symbole und Rituale des Bundes wurden im Rahmen einerseits kunstgeschichtlich,
andererseits religionswissenschaftlich orientierter Betrachtungen vorwiegend in geschichtlichen
Kontexten behandelt. Dabei haben sich die analytischen Ansätze und Deutungsmuster
im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nicht unwesentlich verändert, und der »Mainstream
« der historischen Forschung ist inzwischen durch neue und vielversprechende Forschungsansätze
ergänzt worden, so etwa (und vor allem) durch die neuere Esoterikforschung
und die Ritualforschung. Beide Disziplinen haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen für
die Freimaurerforschung sehr wichtigen, innerhalb des Bundes allerdings nur sehr begrenzt
wahrgenommenen Aufschwung erfahren.1
Weniger befriedigend steht es dagegen um sozialwissenschaftliche Forschungsansätze
und entsprechende empirische Untersuchungen. Es wurden zwar beachtliche Beiträge zur
Sozialgeschichte der Freimaurerei veröffentlicht, doch sozialwissenschaftliche Untersuchungen
zur Freimaurerei der Gegenwart sind rar.2
Inzwischen wurden allerdings zumindest Ansätze zu einer Soziologie der heutigen Freimaurerei
vorgelegt, nicht zuletzt im Rahmen des von Jörg Bergmann und mir initiierten
Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der Universität Bielefeld.
U.a. habe ich selbst im Rahmen dieses Projektes eine Arbeit vorgelegt, die Robert Putnams
Konzept des Sozialkapitals auf die Freimaurerei anwendet.3
Vor allem aus drei Gründen sollten sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Freimaurerei
der Gegenwart fortgesetzt und auch versucht werden, weitere, und vor allem jüngere Forscher
– etwa auch mit Promotionsvorhaben – für dieses Analysefeld zu interessieren:
1 Vgl. zur Esoterikforschung die zahlreichen Veröffentlichungen von Neugebauer-Wölk, Monika:
(http://www.geschichte.uni-halle.de/mitarbeiter/neugebauer-woelk/publikationen/) sowie Hanegraaff,
Wouter J.: The Birth of a Discipline, in: Faivre, Antoine/Hanegraaff, Wouter J. (Hrsg.): Western
Esotericism and the Science of Religion, Leuven 1998, S. VII–XVII. Zur Ritualforschung vgl.
insbesondere die Forschungs-, Veröffentlichungs- und Konferenzaktivitäten des Sonderforschungsbereichs
»Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg, des »weltweit größten Forschungsverbunds
zum Thema Rituale und ihren Veränderungen« (http://www.uni-heidelberg.de/presse/news08/
pm281028-2ritu.html); außerdem: Ritualforschung im Internet (http://www.ritualdynamik.uni-hd.de/
e-journal/berichte/internetrecherche.pdf).
2 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41, 2004, S. 232–234.
3 Höhmann, Hans-Hermann: »The Means of Conciliating true Friendship« – Freimaurerei als Sozialkapital,
in diesem Band, S. 132–151.
116
• Zunächst wachsen hierdurch die Möglichkeiten der freimaurerischen Forschung, gegenüber
einem wichtigen Sektor der Fachwissenschaft gesprächsfähig zu sein.
• Gleichzeitig eröffnen sich Chancen, mit leistungsfähigen Begriffen und Konzeptionen
neue theoretisch-konzeptionelle und empirisch-analytische Zugänge zur Gegenwartsfreimaurerei
zu erschließen.
• Schließlich können leistungsfähige sozialwissenschaftliche Analysekonzepte und entsprechende
Forschungsergebnisse dazu beitragen, die Handlungsgrundlagen von Logen und
Großlogen zu verbessern und einen Beitrag dazu zu leisten, die heute oft in der Luft
hängenden normativen Konzepte für eine Freimaurerei der Gegenwart vom Kopf auf die
Füße zu stellen.
Dabei muss freilich sorgfältig zwischen analytischen Befunden auf der einen und dem Gewünschten,
Gewollten und Angestrebten auf der anderen Seite unterschieden werden. Soziale
Wirklichkeit und freimaurerische Norm dürfen nicht gleichgesetzt oder gar verwechselt
werden. Freimaurerische Forschung kann den Wert der Freimaurerei und ihrer einzelnen
»Lehrarten« nicht beweisen. Kategorische Werturteile darf sie nicht fällen. Sie ist aber zur
Formulierung »hypothetischer Werturteile« berechtigt, wenn diese methodisch und empirisch
begründet sind und für Kritik offengehalten werden. Hypothetische Werturteile beziehen
sich auf die Beurteilung alternativer Vorgehensweisen, die eingeschlagen werden können,
wenn bestimmte vorgegebene Ziele erreicht werden sollen. Jede Begutachtungs- und
Beratungstätigkeit beruht letztendlich auf dem Prinzip, wissenschaftlich zu erörtern, welche
Handlungsoptionen zwecks Zielverwirklichung zur Verfügung stehen, wenn Gewolltes realisiert
werden soll.4 Wenn beispielsweise die Zahl der Freimaurer vergrößert werden soll (»Ziel
10.000« der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland), so kann die Forschung erörtern, welche
Voraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen, wie es um das Vorhandensein dieser Voraussetzungen
steht und welche Wege aussichtsreich sind, um die notwendigen Voraussetzungen
zu schaffen.
2. Habitus, soziales Feld, Kapital – Grundbegriffe der Soziologie
Bourdieus
2.1 Attraktivität und empirische Schwierigkeit einer Anwendung der
Soziologie Bourdieus auf die Freimaurerei
In diesem Beitrag geht es um die Frage, inwieweit Begrifflichkeiten und Forschungskonzepte
des französischen Soziologen Pierre Bourdieu mit Gewinn auf die Freimaurerei anzuwenden
wären. Insbesondere denke ich dabei an die von ihm verwendeten Leitbegriffe Habitus, soziales
Feld und Kapital, die in der Zusammenschau eine neue empirisch begründete soziologische
Theorie ergeben, welche in den heutigen soziologischen Diskursen von großer Bedeutung
ist und sich selbst als »Theorie der Praxis« versteht.5
4 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft, a.a.O. S. 236f.
5 Vgl. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds, Bielefeld
2003, S. 29ff.
117
Pierre Bourdieu, geboren am 1. August 1930 in Denguin (Département Pyrénées-Atlantiques),
gestorben am 23. Januar 2002 in Paris, war der wohl bedeutendste französische
Soziologe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.6 Seit 1964 war Bourdieu Inhaber
des Lehrstuhls für Kultursoziologie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences
Sociales. Seit 1981 hatte er einen Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France inne, eine
der höchsten Positionen im französischen Universitätssystem. Bourdieu begann seine wissenschaftliche
Laufbahn als Ethnologe, durchbrach dann aber die traditionellen Grenzen
der Ethnologie mit zwei soziologischen Arbeiten über Algerien. Seit 1960 hat Bourdieu
umfangreiche, statistisch fundierte Untersuchungen über soziale Strukturen, gesellschaftliche
Dynamik und Bildungs- sowie Erziehungsprobleme der europäischen Gesellschaften
unternommen und zahlreiche, in alle Weltsprachen übersetzte Publikationen vorgelegt.
1985 beauftragte ihn Staatspräsident François Mitterrand, Vorschläge zur Reform des französischen
Bildungswesens auszuarbeiten. Bourdieu hatte und hat auch im Ausland (nicht
zuletzt in Deutschland) einen beträchtlichen Einfluss auf Soziologie, empirische Sozialforschung
und Sozialpolitik.
Das, was ich im Folgenden aufzeige, sind vorerst freilich weniger Forschungsergebnisse
als Hypothesen, die der empirischen Untersuchung harren, wobei ich mich durch
Bourdieu ermutigt fühle, die von ihm entwickelten Forschungsansätze an die analytischen
Erfordernisse des Erkenntnisobjekts Freimaurerei anzupassen. Ich folge Bourdieu
in seiner Auffassung, dass »›Theorien‹ Forschungsprogramme (sind), die nicht zur ›theoretischen
Diskussion‹ anregen sollen, sondern zur praktischen Umsetzung, über die sie
dann widerlegt oder verallgemeinert werden können«.7 Ich folge ihm auch darin, dass
ein Verstehen wissenschaftlicher Texte »heißt, dass man von der Denkweise, die in ihnen
zum Ausdruck kommt, an einem anderen Gegenstand praktischen Gebrauch macht, sie
in einem neuen Produktionsakt reaktiviert, der ebenso intensiv und originär ist wie der
ursprüngliche«.8
Allerdings gibt es bei der gegenwartsorientierten Freimaurerforschung gravierende Probleme
mit dem Zugang zu empirischem Material, denn dieses Material müsste ja vor allem
aus den Logen und Großlogen kommen. Doch die Logen sind häufig besorgt, Informationen
über Details des Logenlebens und persönliche Befindlichkeiten der Brüder weiterzugeben,
und auch die Leitungen der Großlogen verhalten sich eher zurückhaltend mit
der Materialvergabe und scheinen wenig an empirischer Forschung und ihren Ergebnissen
interessiert zu sein, insbesondere, wenn diese Forschung kritische Akzente aufweist. Möglicherweise
schätzen sie es ganz einfach nicht, wenn außerhalb der etablierten Leitungskreise
fachliche Expertise für die freimaurerische Praxis entsteht, die eingeschliffene Verwaltungsroutinen
stört und mit der die zuweilen eingeschränkte Effizienz oberer Leitungstätigkeit
kritisierbar würde.
6 Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hrsg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/
Weimar 2009, S. 1–9.
7 Bourdieu, Pierre: Inzwischen 1988/1991: »Inzwischen kenne ich alle Krankheiten
der soziologischen Vernunft
«, Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais, in: Bourdieu, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude/
Passeron, Jean-Claude: Soziologie als Beruf, Berlin und New York 1991, S. 269–283.
8 Bourdieu, Pierre: Habitus und Feld 1985/1997, S. 65, zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra:
Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz 2005, S. 9.
118
So stütze ich mich im Folgenden nicht zuletzt auf 50 Jahre eigener Beobachtung der
Freimaurerei als »actor-spectator« in der Logen- und Großlogenleitung und auf viele Gespräche,
die ich – gemäß meinem Lieblingsmotto »Nichts geht über das laut denken mit
einem Freunde« – in dieser Zeit bei vielen Logenbesuchen im In- und Ausland geführt
habe.
Nun zunächst zu einer zusammenfassenden Darstellung der genannten Leitbegriffe
Bourdieus, »Habitus«, »soziales Feld« und »Kapital«, um das erforderliche analytische
Handwerkszeug aufzuzeigen, woran sich dann die Anwendung der Soziologie Bourdieus
auf die Freimaurerei anschließen kann.
2.2 Das Habitus-Konzept
Der Begriff des Habitus – dem die vielschichtige Bedeutung von Anlage, Haltung, Erscheinungsbild,
Gewohnheit, Lebensweise eignet – hat eine breite philosophische und soziologische
Tradition, die hier nicht aufgezeigt werden kann.9 Doch in keiner Sozialtheorie
kommt ihm jene zentrale Bedeutung zu, die er in Bourdieus theoretischer Gesamtkonzeption
innehat. Kommen doch im Habituskonzept die grundlegenden anthropologischen Annahmen
Bourdieus über die soziologisch fundamentalen Eigentümlichkeiten sozialer Akteure
zum Tragen.
Auf eine sehr allgemeine Weise definiert Bourdieu Habitusformen als
»Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als
strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und
Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen«.10
Mit anderen Worten: Der Habitus des Menschen ist einerseits eine im Lebensprozess entstandene
dauerhafte Prägung, andererseits wirkt er als gestaltende Kraft auf die ihn umgebende
gesellschaftliche Wirklichkeit zurück, auf das soziale Feld, auf dem er sich als Akteur
bewegt.
Im Lebensprozess bestimmt meint, dass vielfältige Faktoren auf die Formierung des Habitus
einwirken. Von besonderer Bedeutung sind:11
• die Struktur der Familie, in der wir heranwachsen;
• die wirtschaftlichen bzw. schichten- und klassenspezifischen Verhältnisse, aus denen wir
stammen;
• die kulturelle Sozialisation, die wir erfahren haben, einschließlich der religiösen Sozialisation
sowie
• die Bildung, die uns zuteil wurde.
9 Vgl. Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, Hamburg 2000, S. 58f.
10 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen
Gesellschaft, Frankfurt/Main 1976, S. 165.
11 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 113ff.
119
Schließlich schreiben sich die vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen des Lebenslaufes
prägend in den Habitus ein. Kurz: Habitus ist »Leib gewordene Lebensgeschichte«
(Bourdieu). Doch als Produkt der Lebensgeschichte ist der Habitus gleichzeitig wie die Geschichte
selbst »in unaufhörlichem Wandel begriffen« (Bourdieu).
Um es freimaurerisch zu sagen: Der Habitus ist ein »Rauher Stein«, träge und schwierig
zu bearbeiten, aber doch nicht unveränderbar in seiner Form. Hierauf ist später mit der
Frage nach dem freimaurerischen Habitus sowie den Möglichkeiten und Instrumenten
einer Habitusformierung in der Loge zurückzukommen.
2.3 Soziales Feld und das Spiel mit und um »Kapital«
Menschen agieren nun als vom Habitus geprägte Akteure in unterschiedlichen gesellschaftlichen
Realitäten, die Bourdieu als soziale Felder beschreibt. Die Identität jedes Feldes hängt
von vier gemeinsamen Bauelementen bzw. Prinzipien ab:
• der Konstitution des Feldes als jeweils weitgehend autonomem Feld der Praxis;
• der Ordnung im Feld als einer hierarchischen Struktur dieses Feldes;
• dem Kampf im Feld als Quelle der Eigendynamik des Feldes sowie
• der Reproduktion des Feldes als Bedingung seiner sozialen Dauer in der Praxis.12
Bestimmt man auf der Grundlage dieser Prinzipien die Struktur der sozialen Felder, so wird
diese durch eine jeweils für das spezifische Feld typische Konstellation von Faktoren gekennzeichnet.
Hierzu gehören insbesondere
• die im Feld anzutreffenden organisatorischen Formen;
• die feldtypischen Institutionen, d.h. die im Feld gültigen Regelsetzungen formeller und
informeller Natur;
• die auf das Feld bezogenen Wertvorstellungen und Sinndeutungen, von Bourdieu Illusio
genannt, sowie
• die Struktur der Relationen, d.h. insbesondere die Verteilungsstruktur verschiedener Arten
von Macht (oder »Kapital«), welche die Positionen der Akteure oder Institutionen im
Feld bestimmt.13
Der Terminus Feld bildet gleichsam das Pendant zu Bourdieus Konzept des Habitus: Beide
haben mit Entwicklung, mit Geschichte zu tun: Während der Habitus – wie schon gesagt –
leibliche Geschichte ist, stellt das Feld verdinglichte Geschichte dar.14
Die Gesellschaft, das soziale Feld insgesamt, setzt sich nun aus einzelnen, miteinander
mehr oder weniger verflochtenen Einzelfeldern zusammen. Wichtig sind für Bourdieu vor
allem die Felder der Politik, der Wirtschaft und der Kultur. Diese Felder gliedern sich wiederum
in Subfelder auf. So lassen sich etwa beim Feld Kultur – einem der Hauptbereiche
der Soziologie Bourdieus – Unterfelder wie das Feld der Religion, das Feld der Literatur, das
Feld der Schule und das Feld der Universität unterscheiden. Auch das Feld der Freimau-
12 Vgl. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen, a.a.O., S. 59.
13 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 140.
14 Vgl. Bourdieu, Pierre: Reflexive Soziologie 1992/1996, S. 161f., zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König,
Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 141.
120
rerei – von dem gleich mehr zu hören ist – kann als ein Unterfeld des kulturellen Feldes
betrachtet und analysiert werden.
Felder und Subfelder kommunizieren einerseits miteinander, sind auf der anderen Seite
jedoch relativ autonom, was es auch möglich macht, jeweils spezifische analytische Zugänge
zu ihnen zu suchen. Vor allem aber sind soziale Felder Beziehungsgeflechte und stellen
als solche Spielräume für das Handeln sozialer Akteure dar, für Formen der Kooperation,
aber auch für Konflikte, für Auseinandersetzungen um Geltung, Einfluss und Macht.
Bourdieu analogisiert die Felder immer wieder mit »Spielräumen«, Bereichen, die durch
Spielregeln definiert sind und für welche die verschiedenen Spieler ganz unterschiedliche
Ressourcen mitbringen:15
»Sie verfügen über Trümpfe, mit denen sie andere ausstechen können und deren
Wert je nach Spiel variiert: So wie der relative Wert der Karten je nach Spiel ein anderer
ist, so variiert auch die Hierarchie der verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisch,
kulturell, sozial, symbolisch) in den verschiedenen Feldern. Es gibt, mit anderen
Worten, Karten, die in allen Feldern stechen und einen Effekt haben – das sind die
Kapital-Grundsorten – doch ist ihr relativer Wert als Trumpf je nach Feld und sogar
je nach den verschiedenen Zuständen ein und desselben Feldes ein anderer.«16
Dabei spielen die von Bourdieu unterschiedenen Formen von Kapital – ökonomisches, kulturelles,
soziales Kapital – eine besondere Rolle. Die sozialen Felder sind insbesondere zwischen
den arrivierten Akteuren als den Inhabern der jeweiligen Definitionsmacht des Feldes
und den Häretikern als Herausforderern und Neulingen des Feldes umstritten und vor allem
durch Machtspiele im Hinblick auf Ansehen, Einfluss und Macht und das damit verbundene
symbolische Kapital charakterisiert.
Welche Theorien taugen zur Analyse dieser Spiele?
Zu Recht hält Bourdieu die klassische Spieltheorie (John von Neumann/Oskar Morgenstern)
sowie andere analytische Modelle eines »rational choice«-Verhaltens (James Coleman)
für wenig geeignet, das Spiel um Macht und Einfluss im sozialen Feld zu erfassen. Anna von
Pfeil hat die Grenzen der »klassischen« Spieltheorie treffend auf den Punkt gebracht: »Die
Spieltheorie ist ein Modell, das sich häufig nur begrenzt auf realistische Situationen anwenden
lässt. Die dem Modell zu Grunde liegenden Annahmen wie z.B. Gewinnstreben und
strategisches Verhalten der Beteiligten, sind in der Realität sicherlich oft nicht gegeben, wodurch
das gesamte Konzept der Spieltheorie hinfällig wird. Des Weiteren kann man davon
ausgehen, dass den Beteiligten ihre individuelle Nutzensmatrix nicht vollständig bewusst ist,
d.h. sie treffen Entscheidungen, die nicht rational auf Nutzenspräferenzen zurückzuführen
sind.«17
15 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 143.
16 Bourdieu, Pierre: Reflexive Soziologie 1992/1996, S. 128, zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra:
Pierre Bourdieu, ebenda, S. 143.
17 Von Pfeil, Anna: Spieltheoretische Erklärungsansätze für Kooperations- und Konkurrenzverhalten in sozialen
Gruppen, Humboldt Universität Berlin, http://www.leistungsschein.de/archiv/agrarwissenschaften/
arbeiten/Pfeil_Anna_von_Spieltheorie.pdf, Download 5.11.2008.
121
Im Mittelpunkt der spielanalytischen Betrachtung Bourdieus stehen demgegenüber rational
kaum kalkulierbare bzw. nachkalkulierte Verhaltensweisen, die er als Verhaltensweisen
»aus dem Habitus heraus« charakterisiert:
»Der Spieler, der die Regeln eines Spiels zutiefst verinnerlicht hat, tut, was er muss, zu
dem Zeitpunkt, zu dem er es muss, ohne sich das, was zu tun ist, explizit als Zweck
setzen zu müssen. Er braucht nicht bewusst zu wissen, was er tut, um es zu tun, und
er braucht sich (außer in kritischen Situationen) erst recht nicht explizit die Frage zu
stellen, ob er explizit weiß, was die anderen im Gegenzug tun werden«.18
Das heißt, dass nicht die Rationalität mit ihren vielen prinzipiell möglichen Optionen,
sondern der Habitus mit den jeweils habitusspezifisch eingeengten Wahlmöglichkeiten die
Spielzüge eines Akteurs bestimmt, die folglich in einem hohen Maße sozialer Programmierung
unterliegen. Bourdieu zitiert in diesem Zusammenhang Leibniz mit der Feststellung,
dass wir »in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind«.19 Das Habitus-Konzept bedeutet
folglich »nichts anderes als einen Paradigmenwechsel im sozialwissenschaftlichen
Denken, nämlich die Abkehr von einer Vorstellung vom sozialen Handeln, die dieses als Resultat
bewusster Entscheidungen bzw. als das Befolgen von Regeln begreift«.20
Worum geht es den Akteuren im sozialen Spiel? Es geht ihnen um Einsatz und Vermehrung
spezifischer und keineswegs vorrangig ökonomisch zu verstehender Formen von
Kapital.
2.4 Die Arten des »Kapitals«
Als Kapital bezeichnet Bourdieu die verschiedenen Ressourcen, die den Menschen für die
Durchsetzung ihrer Ziele zur Verfügung stehen, die nutzbar sind als »soziale Energie«21, als
Einsätze im Spiel um Positionsgewinne im sozialen Raum, die im Spiel vermehrt oder in
andere Arten von Kapital umgewandelt werden sollen. Dabei werden von ihm vier Formen
von Kapital unterschieden: das ökonomische Kapital, das kulturelle Kapital, das soziale Kapital
und das symbolische Kapital.
Das ökonomisches Kapital ist nach Bourdieu materieller Reichtum, also das, was man
auch im herkömmlichen Sinn unter Kapital versteht.22 Bourdieu ist der Meinung, dass
ökonomischem Kapital auch in der heutigen Zeit eine große Bedeutung zukommt, dass
wirkliche Macht damit aber nur in Verbindung mit den beiden anderen Kapitalformen des
kulturellen und des sozialen Kapitals ausgeübt werden kann.
Das kulturelle Kapital wird von Bourdieu in eine inkorporierte und eine institutionalisierte
Form unterschieden.23 Inkorporiertes kulturelles Kapital besteht in erworbener
18 Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, S. 168.
19 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main
1982, S. 740. Vgl. auch Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, a.a.O., S. 62f.
20 Krais, Beate/Gebauer, Günter: Habitus, Bielefeld 2002, S. 5.
21 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 194.
22 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard
(Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 183–198.
23 Bourdieu, Pierre: ebenda.
122
Bildung, in angeeignetem Wissen, in persönlichen Fertigkeiten. Institutionalisiertes Kulturkapital
existiert in Form von legitim erworbenen Titeln wie z.B. Schul- oder Universitätsabschlüssen.
Während Titel die Eigenschaft einer gewissen »Bestandsgarantie« von
kulturellem Kapital besitzen, steht das inkorporierte kulturelle Kapital von »Autodidakten«
unter einem permanenten Beweiszwang.
Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu die Summe der Beziehungen, auf die ein Individuum
zurückgreifen kann, das dauerhafte Netzwerk von mehr oder weniger institutionalisierten
Verbindungen mit anderen Individuen, das man beim Agieren im sozialen Feld nutzen
kann.24 Im Gegensatz zum ökonomischen und zum kulturellen Kapital bezieht sich das
soziale Kapital also nicht auf einen Akteur an sich, sondern auf die sozialen Beziehungen,
die von einem Akteur im Spiel um Ansehen, Einfluss und Macht mobilisierbar sind.
Bourdieus Sozialkapital-Konzept unterschiedet sich damit nicht unbeträchtlich von
dem Robert Putnams,25 für den Sozialkapital ein für Demokratie und soziale Verträglichkeit
unverzichtbares öffentliches Gut darstellt.
Das symbolische Kapital schließlich, verstanden »als wahrgenommene und als legitim
anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien«, ist für Bourdieu eine den anderen
Kapitalarten übergeordnete Ressource.26 Sie kommt durch gesellschaftliche Anerkennung
zustande und schlägt sich in Charisma, Prestige und Ansehen einer Person nieder. Ökonomisches,
kulturelles und soziales Kapital haben im Machtspiel vor allem die Funktion, den
Bestand an symbolischem Kapital zu vergrößern. Allerdings bedürfen auch diese anderen
Kapitalarten der Anerkennung im Sinne einer Zuschreibung von Legitimität, da sie sonst
als Grundlage für symbolisches Kapital nicht brauchbar sind.
Im Spätwerk Bourdieus – Fuchs-Heinritz und König verweisen darauf27 – findet in
anthropologischer Perspektive eine Erweiterung des Verständnisses vom symbolischen Kapital
statt. Die Menschen seien, da die Religion kaum noch sinnstiftend ist, immer mehr
darauf angewiesen, Lebenssinn und Daseinsrechtfertigung bei den anderen Menschen zu
suchen. Der »späte« Bourdieu wörtlich:
»Die soziale Welt vergibt das seltenste Gut überhaupt: Anerkennung, Ansehen, das
heißt ganz einfach Daseinsberechtigung. Sie ist imstande, dem Leben Sinn zu verleihen,
und, indem sie ihn zum höchsten Opfer weiht, selbst noch dem Tod. Weniges
ist so ungleich und wohl nichts grausamer verteilt als das symbolische Kapital, das
heißt die soziale Bedeutung und die Lebensberechtigung.«28
Schon bei der hiermit zunächst abgeschlossenen Vorstellung der Begrifflichkeiten und Analyseansätze
Bourdieus scheinen Anwendungen auf die Freimaurerei nahezuliegen, ja sich
förmlich aufzudrängen.
24 Bourdieu, Pierre: ebenda.
25 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.:
Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; ders. (Hrsg.): Gesellschaft
und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
26 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am
Main 1985, S. 11.
27 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 171.
28 Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 309f.
123
3. Anwendung auf die Freimaurerei
3.1 Habitus
Kommen wir also zur Anwendung der skizzierten Konzepte Bourdieus auf die Freimaurerei
und beginnen wir mit dem Habitus-Konzept:
Zunächst haben wir es in der Freimaurerei mit »Habitus« in zwei Erscheinungsformen
zu tun: Einerseits beschreibt »Habitus« einen empirisch-analytischen Befund, der sich auf
die Mitglieder des Bundes bezieht, wie sie nun einmal sind.
Andererseits ist »Habitus« ein normatives Konzept, das ein ideales Modell dafür entwirft,
wie Freimaurer fühlen, wahrnehmen, denken und handeln sollen.
Das normative Konzept wird von uns Freimaurern oft und gern propagiert. Es hat
Leitbildcharakter für uns, und wir fühlen uns in ihm zu Hause. Mit dem anderen, dem
empirisch-analytischen Befund, dem Habitus des Freimaurers, wie er ist, setzen Freimaurer
sich nur zögerlich und ungern auseinander – es sei denn, sie sind gerade von einem ihrer
Mitbrüder geärgert oder verletzt worden.
Normativ betrachtet bedeutet freimaurerischer Habitus, dass der Bruder Freimaurer Wertüberzeugungen
besitzen soll, die dem Formenkreis bürgerlicher Wertorientierungen zugehörig
und untrennbar mit moralischen Verhaltensqualitäten verbunden sind:
• Wertüberzeugungen wie Mitmenschlichkeit, Solidarität, kritische Distanz zur eigenen
Person, Gerechtigkeit, Sittlichkeit;
• Verhaltensqualitäten wie gegenseitige Wertschätzung, respektvoller Umgang miteinander,
hohe Diskursqualität, Toleranz in Reden und Handlungen, praktizierte Hilfe (Wohltätigkeit).
Der Gedanke, dass Freimaurerei vor allem Habitusstrukturierung bewirken soll, ist regelmäßiger
Bestandteil der Rituale und taucht schon früh in der Geschichte des Bundes auf.29
Als frühes Beispiel möchte ich eine Rede des Londoner Freimaurers Martin Clare von
1735 zitieren. Clare war als Meister vom Stuhl der »Loge of Friendship« sowie als Großaufseher
und deputierter Großmeister der Londoner Großloge seinerzeit durchaus ein Maurer
von Rang.
»Die innerliche, geistige Höflichkeit drückt sich im allgemeinen im äußerlichen Benehmen
aus, dessen Art, Weise und Umstände … in der Regel und der Praxis durch
Beobachtung derjenigen Menschen und ihres Benehmens erlernt werden müssen, denen
zuzugestehen ist, dass sie höflich und wohlerzogen sind. Aber der wesentlichere
Teil der Höflichkeit liegt tiefer als das Äußere und ist jenes allgemeine Wohlwollen,
jene anständige Hochachtung und persönliche Wertschätzung für jedermann, die
uns davor warnt, in unserem Benehmen anderen gegenüber Geringschätzung, Miss-
29 Vgl. zuletzt Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus
im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2008.
124
achtung oder Nachlässigkeit zu zeigen … Er ist, mit einem Worte gesagt, eine geistige
Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.«30
Eine schöne Definition von Freimaurerei: eine Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.
Die Ausbildung eines freimaurerischen Habitus soll nicht nur durch die Teilnahme
am Ritual, sondern auch durch den sozialen Kontakt in der Loge bewirkt werden. Dieser
Aspekt wurde vor allem in den Freimaurerdiskursen am Ende des 18. Jahrhunderts betont,
als – nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« – nach neuen Formen und
Aufgaben für die Freimaurerei in Deutschland gesucht wurde. Der Freimaurer Karl Philipp
Moritz beschrieb den Zusammenhang zwischen Habitusformierung und geselliger Logenpraxis
in einer seiner Berliner Freimaurerreden auf folgende Weise:
»Die höchstmögliche moralische Vervollkommnung ist also das Ziel, wonach der
Maurer strebt, und diese besteht in der zweckmäßigsten und uneigennützigsten Tätigkeit.
Denn die bloßen Gesinnungen machen die Moralität nicht aus.
Wer edel denkt, muß auch edel handeln …, und edel handeln lernt man nicht anders
als durch Übung und durch Beispiel, und beide, wer das Beispiel gibt sowohl als wer
es nimmt, gewinnen wechselseitig dadurch. Weil nun in der Welt die guten Beispiele
so zerstreut sind, so sollten sie in unsern Logen zusammengedrängt sein, damit dieselben
die eigentliche Schule der Weisheit des Lebens würden.
Dazu müssen denn die einzelnen Mitglieder freilich so viel Umgang wie möglich
miteinander haben, denn die Maurerei soll uns ja aus unserm kleinen Umgangszirkel
in einen größern ziehen, wo wir mehr mannigfaltiges Gute sehen, als wir sonst Gelegenheit
haben.
Wo wir uns in alle Rechte der Menschheit wieder eingesetzt fühlen.
Wo alle an der Wohlfahrt eines jeden einzelnen teilnehmen und bei seinen Schicksalen
nicht gleichgültig sind. Wo das, was unsere wahre Glückseligkeit ausmacht, zur
Sprache kömmt.
Wo ein jeder die Vorteile, die er durch eigne Erfahrung zu einer wahren Glückseligkeit
ausfindig gemacht hat, und seine mißlungenen Versuche dem andern mitteilt.
Wo alles uns abmahnen soll, das Leben zu genießen und den Tod nicht zu fürchten,
uns zu unterwerfen, wo wir müssen, und die Rechte der Menschheit zu verteidigen,
wo wir können.
Wo wir lernen, daß wir nicht tätig sein müssen, um zu genießen, sondern nur genießen,
um wieder tätig sein zu können.«31
30 Möller, Dieter (Hrsg.): Fünf frühe Freimaurerreden 1726–1737, Quellenkundliche Arbeiten der Freimaurerischen
Forschungsgesellschaft e.V und der Forschungsloge Quatuor Coronati der Vereinigten Großlogen
von Deutschland. Bruderschaft der deutschen Freimaurer, Frankfurt/Main 1966, Heft Nr. 2, S.
41–46, hier S. 41.
31 Moritz, Karl Philipp: Des Maurergesellen Wanderschaft (zuerst veröffentlicht Berlin 1793), zitiert nach:
Gerlach, Karlheinz (Hrsg.): Berliner Freimaurerreden 1743–1804, Frankfurt am Main 1996, S. 300f.
125
Gern zitiert wird bis heute – so auch als Motto auf der Homepage der Großen Landesloge
der Freimaurer von Deutschland32 – folgende aus dem 19. Jahrhundert stammende Beschreibung
des (normativen) freimaurerischen Habitus:
Was ist Freimaurerei?
Daheim ist sie Güte,
Im Geschäft ist sie Ehrenhaftigkeit,
In Gesellschaft ist sie Höflichkeit,
In der Arbeit ist sie Anständigkeit,
Für den Unglücklichen ist sie Mitleid,
Gegen das Unrecht ist sie Widerstand,
Für das Schwache ist sie Hilfe,
Dem Gesetz gegenüber ist sie Treue,
Gegen den Unrechttuenden ist sie Vergessen,
Für den Glücklichen ist sie Mitfreude,
Vor Gott ist sie Ehrfurcht und Liebe.
Die Freimaurer haben nun drei große Gruppen von Praxisformen bzw. von Instrumenten,
um den hergebrachten, ursprünglichen Habitus in einen freimaurerischen Habitus umzuformen:
• die soziale Praxis, d.h. die Partizipation an der spezifischen Kultur der freimaurerischen
Geselligkeit;
• die diskursethische Praxis, d.h. die Beteiligung an der für Freimaurer – normativ! – typischen
Art und Weise, ethische Diskurse zu führen, und – vor allem –
• die symbolisch-rituelle Praxis, d.h. die Teilnahme an ihren, Symbole in dramatische Vollzüge
umsetzenden wert-, sinn- und verhaltensorientierten Ritualen.
Eine Freimaurerei, die dem skizzierten Normkonzept entspricht, lässt sich leicht beschreiben:
Sie ist gekennzeichnet durch Logen,
• die harmonisch sind, wo die Regulierung von Konflikten die Arbeitsfähigkeit der Bruderschaft
nicht beeinträchtigt,
• wo Diskurse geführt werden, an denen sich auch Externe gern beteiligen,
• die auf gutem Niveau gesellig sind,
• die rituell überzeugend arbeiten,
• die ein klares Identitätsbewusstsein haben, d.h. die sich darüber klar sind, wie Freimaurerei
verstanden und praktiziert werden soll und wie sie sich nach außen vermitteln lässt.
Solche Logen weisen in der Regel auch ein solides, d.h. auf menschlicher und intellektueller
Qualität beruhendes Wachstum ihrer Mitgliederzahlen auf.
Es gibt freilich auch Logen, in denen manches fehlt, was dem skizzierten Normkonzept
entspricht, wo weder die innere Praxis noch die Außendarstellung dem Wesen einer
durchdachten, konsistenten, ohne Blamage-Risiko auch von außen befragbaren Freimaurerei
entspricht.
32 www.freimaurerorden.de, Download 10.10.2008.
126
Und dasselbe gilt für die übergeordneten Einheiten des Aufbaus der Freimaurerei: die
Distrikts-, Provinzial- und Großlogen, die bruderschaftlichen Vereinigungen, die Stiftungen
und dergleichen mehr. Auch hier gibt es auf der einen Seite Leitungscharisma und eindrucksvolle
Gestaltungskraft, auf der anderen Seite konzeptionelle Irritation, administrativer
Leerlauf und Führungsschwäche. Hin und wieder entstehen gar Ämterkartelle, deren
Mitglieder nicht der Versuchung widerstehen, formelle, satzungsgemäße Entscheidungsstrukturen
zu umgehen und Großlogenleitung im Stil von »Küchenkabinetten« zu betreiben.
Wie lassen sich solche Fehlentwicklungen erklären?
Zumindest teilweise dadurch, dass sich in der Freimaurerei auch Struktur- und Praxisformen
antreffen lassen, die – gelinde gesagt – zumindest »problemverdächtig« sind.
Hierzu gehören insbesondere
• Ämterhierarchien,
• Titel, Orden und Ehrenzeichen sowie
• vielgliedrige Gradsysteme.
Diese Formen sind geeignet, Widersprüche auszulösen zwischen einer Logenrealität, die
»bürgerliche« Unterschiede und Rangstufen verfestigt statt sie zu überwinden, und dem freimaurerischen
Konzept des Menschen, der – so Lessing – als »bloßer Mensch« anderen »bloßen
Menschen« in der Loge begegnet. Werden diese Formen nicht kritisch reflektiert und in
ihren Auswirkungen kontrolliert, so können sie statt zur Herausbildung eines Habitus der
Mitmenschlichkeit und Gleichberechtigung zur Generierung und Verfestigung eines narzisstischen
Habitus, eines Habitus der Anmaßung und Eitelkeit führen.
Schlussbemerkung zum Verhältnis zwischen Habitus und Entwicklung der Freimaurerei:
Habitus als Inbegriff von Wahrnehmen, Denken, Entscheiden und Handeln ist eine
langfristig gewachsene Kategorie. Habitus ist nur schwer veränderbar. Und so ist die Wahrscheinlichkeit,
dass neue Mitglieder des Bundes ihren hergebrachten – und, salopp gesagt,
nicht immer »freimaurertauglichen« – Habitus auf die Bruderschaft übertragen, nicht gering
und der umgekehrte Fall einer positiven Habitusformierung durch Mitwirken in der
Freimaurerei nur unter großen Anstrengungen zu erreichen.
Für die Auswahl neuer Mitglieder ließe sich infolgedessen überspitzt formuliert
empfehlen, nur den, der habituell zumindest die Anlage erkennen lässt, sich in der
Freimaurerei weiterzuentwickeln, zum Bruder Freimaurer aufzunehmen! Auf alle Fälle
gilt es, bei der Auswahl von Kandidaten die folgende Feststellung Bourdieus im Kopfe
zu behalten:
»Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: Wer den Habitus
einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person
versperrt ist.«
Auf die Loge angewendet hieße dies:
127
Um zu wissen, was die Loge entgegen optimistischer Annahmen von einem neuen Mitglied
nicht erwarten kann, muss sie seinen Habitus kennen und beachten, sonst bleiben die Erwartungen
auf beiden Seiten unerfüllt und Enttäuschung ist programmiert. Daraus folgt einmal
mehr: Mitgliederauswahl ist notwendigerweise ein langer, qualitätsorientierter Prozess.
3.2 Freimaurerei als »soziales Feld« und Spiel um »symbolisches«
Kapital
Kommen wir zum sozialen Feld, zum Feld Freimaurerei, und beschreiben wir zunächst seine
Struktur.
Folgende drei Elemente sind von besonderer Bedeutung:
• Die Organisationen. Zu diesen gehören die Logen, Distrikts- bzw. Provinziallogen und
Großlogen, die bruderschaftlichen Vereinigungen (sprich Hochgradsysteme und besondere
freimaurerische Assoziationen, Quatuor Coronati, Pegasus) sowie die Leitungsgremien,
Vorstände, Ordensräte, Ehrenräte aller Ebenen.
• Die Institutionen, d.h. die Regelsysteme. Diese können formeller Art sein, wie Satzungen
und Verfassungen der verschiedenen Ebenen, oder informeller Art, wie die konsensual
und längerfristig entstandenen Modalitäten des Verhaltens.
• Die Sinnzuschreibungen. Hierbei geht es um die Einschätzung und Wertschätzung, die
die Brüder als Akteure im freimaurerischen Feld mitbringen, die freimaurerische Idee, mit
der wir unser Ideal von Freimaurerei identifizieren. Bourdieu spricht hier – ich erwähnte es
schon – bezeichnender- und entlarvenderweise von »Illusio«. Zur freimaurerischen Illusio
gehört auch die Überzeugung, dass der Bund im Vergleich zu anderen Gemeinschaften etwas
Besonderes, etwas Ehrwürdiges, etwas Geheimnisvolles ist, das für die Freimaurerei insgesamt
wie für den einzelnen Bruder ein hohes Maß an symbolischem Kapital generiert.
Deshalb ist nicht zuletzt das Aufrechterhalten der Illusio, der permanenten, ungebrochenen
positiven Sinnzuschreibung, für Bestand und Beständigkeit der Freimaurerei entscheidend.
Umgekehrt – so beschreiben Fuchs-Heinritz und König in einem allgemeinen Sinne die Folgen
eines Zusammenbruchs der Illusio –:
»Verliert ein Spieler oder verlieren viele – aus welchen Gründen auch immer – den
Glauben an die Sinnhaftigkeit des Spiels …, dann brechen Sinnfragen auf, die sich zuvor
nicht gestellt hatten. Normalerweise reagieren alle Gruppen in einem Feld, auch
wenn sie darin sonst gegensätzliche Positionen vertreten, außerordentlich empfindlich
und aggressiv auf Individuen oder Gruppen, die den Sinn des Spiels in Frage
stellen und dadurch dazu beitragen könnten, dass der Fortgang des Spiels in Zweifel
gezogen werden muss.«33
Viele Austritte aus dem Bund der Freimaurer werden mit dem Zusammenbruch der Illusio begründet.
»Ich dachte« – so heißt es dann –, »ich wäre in einem Bunde, der sich guten Zielen ver-
33 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 147. Vgl. auch Bourdieu, Pierre:
Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1999, S. 123.
128
schrieben hat, und nun sieht alles ganz anders aus.« In der Regel wird dieser Zusammenbruch
der Illusio personalisiert. Klassisch hierfür ist die Formel: »Die Freimaurerei ist eine gute Sache
– aber die Brüder, aber die Brüder«!
Ein Zusammenbruch der Illusio findet sich nicht zuletzt bei vielen führenden Freimaurern
der klassischen Periode unseres Bundes, der Jahrzehnte um das Jahr 1800. Knigge, Feßler
und Fichte sind prominente Beispiele, aber auch Goethe und Herder sind hier einzuordnen,
allerdings mit Einschränkungen.
Für die Sinnzuschreibung der Freimaurerei gibt es nun verschiedene idealtypische Möglichkeiten,
die jeweils mit bestimmten Auswirkungen auf die Formen freimaurerischer Praxis
verbunden sind.
So kann Freimaurerei zunächst in Übereinstimmung mit der vorherrschenden (normativen)
Illusio als System verstanden werden, in dem und durch das Aufgaben verwirklicht
werden, die hohen Wertvorstellungen entsprechen. In Deutschland werden diese Aufgaben
gegenwärtig je nach »Lehrart« humanitär (Großloge AFuAM: »Freie Entfaltung der Persönlichkeit,
Brüderlichkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu«) oder christlich
(Große Landesloge: Orientierung an der »Lehre Jesu Christi, wie sie in der Heiligen Schrift
enthalten ist«) pointiert. Bei diesen Sinnzuschreibungen erscheint Freimaurerei dann als
Produzentin und Anbieterin eines hohen moralischen bzw. religiösen Gutes, das nicht nur
ein persönliches oder gruppenspezifisches, sondern ein allgemeines öffentliches Gut ist.
Da jedoch diesen Wertvorstellungen aufgrund des freimaurerischen Grundgedankens, Menschen
unterschiedlicher Herkunft und weltanschaulicher Überzeugung zusammenzuführen,
kein gemeinsames Programm zugrunde liegt und kein konkreter Zweck zugeschrieben werden
kann, schiebt sich die Innenperspektive, die Beschäftigung mit sich selber stark in den
Vordergrund.
Dann kann sich die freimaurerische Sinnzuschreibung deutlich verändern und hauptsächlich
darin bestehen, in der Freimaurerei – zumindest auch – ein subjektives System der
Selbstverwirklichung zu sehen, einen Modus zur Generierung und zur Aufrechterhaltung
eines positiven Selbstbildes. In diesem Falle ginge es den Brüder Freimaurern nicht allein und
nicht vor allem um Wertorientierung und Wertpraxis, sondern um Möglichkeiten, sich in
Szene zu setzen, nach Ämtern zu streben und Auszeichnungen zu erlangen, kurz: es ginge um
den Erwerb von persönlichem symbolischen Kapital.
Wenn im Folgenden der Analyseschwerpunkt hier gesetzt wird, so soll keineswegs konstatiert
werden, dass maurerischer Idealismus keine große Rolle in der Freimaurerei spielt. Im
Gegenteil: Es gibt viele Beispiele dafür und jeder Freimaurer kann an ihnen teilhaben. Es soll
aber mit der von Bourdieu angeregten Hypothese von Freimaurerei als Wettbewerb, als Spiel
um symbolisches Kapital, eine Erklärung für bestimmte Erscheinungsformen, Verhaltensweisen
und Entwicklungstendenzen im Bund angeboten werden, mit denen wir nicht zufrieden
sind und sein können.
Das symbolische Kapital, das die Freimaurerei vermittelt, tritt wie das kulturelle Kapital in inkorporierter
und in institutionalisierter Form in Erscheinung.
• In inkorporierter Form wird es dem Freimaurer als Wertschätzung zuteil, die er bei seinen
Brüdern aufgrund seiner persönlichen charakterlichen, kulturellen und intellektuellen
Qualitäten genießt.
129
• In institutionalisierter Form besteht symbolisches Kapital in den in der Freimaurerei
sozahlreichen Ämtern, Titeln, Orden und Graden, die wir selbst oft als irgendwie unpassend,
anachronistisch oder gar lächerlich empfinden, von denen wir dann aber doch,
trotz der Witze, die wir selbst darüber machen, nicht lassen wollen.
Zwischen beiden Formen von symbolischem Kapital besteht ein Zusammenhang: Einerseits
kann sich persönliche Wertschätzung in der Betrauung mit Ämtern und der Verleihung
von Auszeichnungen niederschlagen, andererseits tragen Ämter und Orden zur persönlichen
Rangerhöhung
und Wertschätzung bei.34
Freilich unterliegen Erwerb und Erhalt von symbolischem Kapital durch Ämter und
Auszeichnungen des Öfteren der Entscheidung seitens leitender Gremien, die nicht immer
der Versuchung widerstehen, die Vergabe von symbolischem Kapital, aber auch seine
Vorenthaltung, als Teil ihrer »Erhaltungsstrategien«35 zu verwenden, d.h. als Mittel ihrer
Absicht, eigene Positionen im Feld Freimaurerei aufrechtzuerhalten und gleichsam symbolisches
Kapital gegen Loyalität einzutauschen. Werden dagegen bei Brüdern Strategien der
Häresie vermutet, d.h. wird angenommen, dass diese etablierte Strukturen und Denkweisen
infrage stellen oder gar verdrängen wollen, so kann ihnen institutionalisiertes symbolisches
Kapital vorenthalten werden, auch wenn sie sich bei vielen ihrer Brüder hoher Wertschätzung
erfreuen.
Bei hierarchischen Freimaurersystemen ist das symbolische Kapital auf den oberen Ebenen
der Hierarchie konzentriert. Daher sind diese Systeme auf besondere Weise strukturbedingt
konservativ. Denn jede Reform ginge zu Lasten des symbolischen Kapitals der
oberen Ebenen der Hierarchie. Ein solcher freimaurerischer Konservatismus hat auch gute
Chancen, sich zu erhalten, selbst wenn er sich überlebt hätte bzw. von den Brüdern Freimaurer
als überlebt angesehen würde. Denn die Abhängigkeit von denen, die über Besitz und
Vergabemöglichkeiten von symbolischem Kapital verfügen, veranlasst Anwärter darauf, sich
anzupassen und auf häretische Strategien des Spiels zu verzichten.36
34 Dieser Zusammenhang hat eine lange Tradition im Freimaurerbund. Bereits in August Siegfried Friedrich
von Goués Freimaurerroman »Ueber das Ganze der Maurerey« von 1782 berichtet einer der Helden
nach einer maurerischen Ehrung: »Als ich mit dem Ringe zurück kam, mein lieber Stralenberg, oh wie
feierten mich die hiesigen Brüder der untern Stufen. Sie tragen eine wahre Verehrung für diesen Ring,
und wenn mich der Kayser in den Grafen=Stand erhoben hätte, so wär ich dadurch das in ihren Augen
nicht geworden, wozu ich in Frankfurt gestiegen bin.« Zitiert nach Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis.
Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung
des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, S. 88f.
35 Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen, Frankfurt/Main 1993, S. 109.
36 In Bezug auf das System der »Strikten Observanz« hatte Adolph Freiherr Knigge, in den 1780er Jahren
führender Freimaurer und Illuminat, kritisch vermerkt: »Statt daß bis itzt Freiheit, Gleichheit und Bruderhand
die Stützen des Ordens gewesen waren …, so führte man nun eine unerhörte … Subordination
ein; die hohen inneren Ordensbrüder oder Ritter gaben sich ein solches Ansehen vor den Brüdern der
unteren Grade voraus, daß jeder mit Eifer Beförderung suchte, um gleicher Ehre zu genießen« (»Beitrag
zur neuesten Geschichte des Freimaurerordens in neun Gesprächen« mit Erlaubnis meiner Oberen
herausgegeben, Berlin 1786, in: Über Freimaurer, Illuminaten und echte Freunde der Wahrheit, hrsg.
von Wolfgang Fenner, Wiesbaden 2008, S. 21–119, hier S. 60f.). Gewiss, die »Strikte Observanz« hatte
sich bald überlebt, doch es ist zu fragen, ob nicht einige ihrer Struktur- und Funktionsprinzipien allen
hierarchischen
Systemen der Freimaurerei eigen sind.
130
3.3 Andere Kapitalarten und ihre (abnehmende) Bedeutung für die
Freimaurerei
Bisher wurde Kapital als Ressource bzw. als Ziel einzelner freimaurerischer Akteure behandelt.
Der Bestand an Ressourcen spielt jedoch auch eine beträchtliche Rolle für die Kommunikation
der Freimaurerei mit anderen Feldern der Gesellschaft. Hier geht es um die
Wertschätzung und Aufmerksamkeit, die der Freimaurerei zuteil wird. Freimaurerei wird als
geheimnisvolle Welt wahrgenommen und dargestellt, ihr symbolisches Kapital ist das eines
schwer zu entschlüsselnden Geheimnisses. Dass sie ein wichtiger und seriöser Partner sein
könnte, tritt dahinter zurück. Dies liegt an einer unzureichenden gesellschaftlichen Vernetzung
der Freimaurerei, am Fehlen ihrer Stimme in öffentlichen Diskursen – obwohl es doch
in diesen Diskursen oft um zutiefst freimaurerische Anliegen geht, um Menschenwürde, Gerechtigkeit,
Brüderlichkeit und Toleranz, kurz: an Defiziten auf Seiten ihres sozialen Kapitals.
Dahinter wiederum machen sich weitere Kapitaldefizite negativ bemerkbar.
Hierbei spielen vor allem das
• ökonomisches Kapital (Vermögen, Beitragsaufkommen, Logenhaus, Stiftungen),
• das kulturelle Kapital (Tradition, Ansehen, kulturelle und künstlerische Fähigkeiten) sowie
• das Humankapital (Bestand an »Persönlichkeiten«, Mitgliederrekrutierung aus Eliten)
eine wichtige Rolle.
In der Vergangenheit (sowohl in der sich transformierenden Ständegesellschaft des 18. und
frühen 19. Jahrhunderts als auch in der klassischen »bürgerlichen« Gesellschaft der zweiten
Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) ließen sich jeweils recht hohe Kapitalbestände
beobachten.37 Ein bedeutender Schritt der Logenentwicklung seit Beginn und
mehr noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Bau bzw. Erwerb von Logenhäusern38,
die vielfach den Rang örtlicher Kulturstätten erwarben. Im Zuge der Schließung
der Logen im Jahre 1935 mussten die Logenhäuser zwangsverkauft werden oder wurden von
NS-Behörden beschlagnahmt. Durch Kriegszerstörungen, unzureichende Entschädigungen,
anhaltenden Eigentumsentzug in der DDR und steigende Kosten, die von den Logen nicht
immer verkraftet werden konnten, wurde der Immobilienbesitz weiter beeinträchtigt. Die
Rückgabe von Logenhäusern in den neuen Bundesländern nach 1990 hat den Substanzverlust
nur teilweise kompensieren können.
Zur Abnahme des ökonomischen Kapitals kommen Defizite beim kulturellen Kapital,
wenn es hier auch einen beträchtlichen Fundus an Tradition und Ansehen gibt, der
durch »externe Ressourcen« vermehrt werden könnte. Doch die deutsche Freimaurerei
der Gegenwart leidet nicht zuletzt an der zu geringen Zahl wirklich »charismatischer«
Persönlichkeiten. Kulturelles Kapital ging der Freimaurerei ja nicht zuletzt auch dadurch
verloren, dass die dem traditionellen Bildungsbürgertum vergleichbaren sozialen Gruppen
37 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »The Means of Conciliating true Friendship« – Freimaurerei als Sozialkapital,
in diesem Band, S. 132–151.
38 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
1840–1918, Göttingen 2000, S. 213ff.
131
der heutigen Gesellschaft nicht mehr in früherer Größenordnung in der Freimaurerei vertreten
sind.
Zum Schluss noch einmal die Frage, warum es sinnvoll sein mag, Freimaurerei auch mit Methoden
und Paradigmen der modernen Sozialwissenschaft zu analysieren. Gewiss nicht, um
ihren Wert als Kulturträger und als persönliche spirituelle sowie soziale Heimat zu beschädigen,
wohl aber, um sie besser zu verstehen und um in der Lage zu sein, sie zu verbessern.
Die moderne Sozialwissenschaft ist – so gesehen – ein Spitzhammer am »Rauhen Stein« der
Freimaurerei.
132
»The Means of Conciliating true Friendship«–
Freimaurerei als Sozialkapital1
Zu den Begriffen, denen in der jüngeren Vergangenheit eine erhebliche Karriere gelang,
zählt auch der Terminus »Sozialkapital«. Kaum ein anderer sozialwissenschaftlicher Begriff
errege, so hieß es 2003 in einer Studie der Universität Hannover2, derzeit so viel Aufmerksamkeit
und würde gleichzeitig derart flexibel in verschiedenen Zusammenhängen verwendet
wie der des Sozialkapitals. Die Biographien erfolgreicher Manager würden damit genauso
in Verbindung gebracht wie die Reduzierung der Gewaltbereitschaft an Schulen und die
ökonomische Innovationsfähigkeit von Städten und Regionen. Auch auf der Makroebene
der Gesellschaft sei es gang und gäbe geworden, so wünschenswerte Erscheinungen wie die
wirtschaftliche Prosperität von Nationen, ein hohes Maß an sozialem Engagement der Bevölkerung
und eine niedrige Rate der Kriminalität mit dem Vorhandensein von Sozialkapital
zu erklären.
Dimensionen und Elemente des Sozialkapitals
Es sind vor allem zwei Dimensionen des Sozialkapital-Konzepts, die gegenwärtig in den
Mittelpunkt der Diskussion um erfolgreiche gesellschaftliche Entwicklung gerückt werden:3
1. Die Rolle von Sozialkapital als »Bindemittel« für ein wertorientiertes kollektives Handeln
in komplexen modernen Gesellschaften: Jede Gesellschaft benötige, so wird
argumentiert,4 zur Organisation des Zusammenlebens eine Ordnung, deren Humanität
und Vitalität auch vom Einsatz des Einzelnen, seiner Motivation und seiner
Mitsorge für die Gemeinschaft abhängig sei. Gemeinsinn und Gemeinschaftsfähigkeit
seien Grundvoraussetzungen für den sozialen Zusammenhalt. Gesellschaftliche Bindekräfte
wirkten als zentrale Ressource jeder Gesellschaft.
2. Die Eigenschaft von Sozialkapital als Disposition und Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen
Engagement in Assoziationen verschiedener Art (Vereinen, Initiativen, Clubs, aber
auch Parteien und Interessenverbänden) sowie als statisches und dynamisches Strukturelement
von Assoziationen: Diese Verknüpfung von Sozialkapital und Assoziationen aller
Art erfährt gegenwärtig sowohl in der lokalen Sozial- und Politikforschung als auch
auf makropolitischer Ebene große Aufmerksamkeit.5 Es werden dabei Formen von Sozialkapital
untersucht, die Menschen in Situationen relativer Gleichheit zusammenführen,
die auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruhen und die sich auf die Mitgliedschaft in eh-
1 Der Verfasser dankt Frau Diplom-Soziologin Lisa Hürter, Universität Bielefeld, für Durchsicht des Manuskripts
und Übertragung der Grafiken aus der Datenbank des Bielefelder Forschungsprojekts (s. Fußnote
30).
2 Zimmermann, Karsten: Sozialkapital – Grundlage der Entwicklung von sozialen Systemen?, Studie des
Instituts für Landesplanung und Raumforschung, Hannover 2003, S. 1.
3 Ebenda.
4 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Weidenfeld, Werner: Vorwort, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.), Gesellschaft
und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001, S. 11ff.
5 Zimmermann, Karsten: Sozialkapital, a.a.O., S. 1.
133
renamtlichen geselligen, politischen, religiösen und ethisch orientierten Vereinigungen
beziehen.6
Wenn nun Sozialkapital mit Assoziationen zu tun hat und die Freimaurerloge als ein struktureller
und historischer Grundtyp der Assoziationsbildung gelten kann, so erscheint es
schon von hierher fruchtbar, das Konzept »Sozialkapital« auf die Freimaurerei anzuwenden,
zumal sich – wie bereits für die Soziologie Pierre Bourdieus angemerkt wurde – hierdurch die
Möglichkeiten zum Gespräch mit einem für die Analyse der Gegenwartsfreimaurerei wichtigen
Sektor der Fachwissenschaft zunehmen.
Doch vor einer ausführlichen Anwendung auf die Freimaurerei zum Konzept selbst:
Das Konzept »Sozialkapital« wurde von einer Anzahl von Sozialwissenschaftlern entwickelt,
wobei Soziologen wie Pierre Bourdieu7, James S. Coleman8 und Robert D. Putnam9
besondere Bedeutung zukommt. Der Begriff »Kapital« beschreibt im Allgemeinen die Ressourcen,
die Gemeinschaften oder einzelnen Akteuren in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik
zur Verfügung stehen, um die von ihnen verfolgten Zwecke zu realisieren. Kapital wird
dabei als Ressource in Transaktionsbeziehungen verstanden.10 Eigentum und Besitz für sich
genommen stellen noch kein Kapital dar, sie werden erst dadurch zu Kapital, dass sie in
horizontalen und vertikalen Transaktionen für den Prozess ihrer Reproduktion eingesetzt
werden. Verschiedene Arten von Kapital lassen sich unterscheiden. Zunächst existiert Kapital
in »materialisierter« Form als physisches Kapital (Gebäude, Maschinen, Infrastruktur),
Finanzkapital (Ersparnisse, Kredite) und Humankapital (Menschen und ihre Fähigkeiten).
Dazu kommen aber auch Kapitalarten, die nicht materiellen Charakters sind und doch
eine große Rolle in der Gesellschaft spielen. Hierzu gehören das kulturelle Kapital, das
insbesondere von Bourdieu11 in verschiedenen Erscheinungsformen (Kulturgüter, kulturelle
Kompetenz, Bildungstitel) beschrieben wurde,12 und das Sozialkapital, das im Zentrum der
vorliegenden Analyse steht.
6 Vgl. Hall, Peter: Sozialkapital in Großbritannien, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn,
a.a.O., S. 47f.
7 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel/Reinhardt
(Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 183–198; ders.: The
Forms of Capital, in: Richardson, J. G.: Handbook of Theory and Research for Sociology of Education,
New York 1986; ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am
Main 1987; ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992.
8 Coleman, James S.: Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology,
94/1988, S. 95–120; ders.: Foundations of Social Theory, Cambridge/Mass. 1990.
9 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civil Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.:
Bowling Alone: The Collapse and Revival of Amerian Community, New York 2000: ders. (Hrsg.): Gesellschaft
und Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
10 Dieser Gesichtspunkt wurde nachdrücklich von Karl Marx betont, für den ökonomisches Kapital eine
soziale Kategorie darstellt, die kapitalistische Unternehmer und proletarische Lohnarbeiter auf eine spezifische,
die Ausbeutung der Letzteren ermöglichende Weise verbindet.
11 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im Lichte der Soziologie
Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
12 Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, a.a.O., S. 183ff.; ders.:
Die verborgenen Mechanismen der Macht, a.a.O., S. 52ff.
134
Allgemein werden unter Sozialkapital zwischenmenschliche Netzwerke verstanden, die
auf Vertrauen,13 Solidarität und gemeinsam akzeptierten Normen beruhen. Sozialkapital
ermöglicht und fördert gemeinsames Handeln, erhöht die Risikobereitschaft der Netzwerkmitglieder,
führt zu Kreativität und Innovationen, vermittelt Motivationen und gestattet es,
weniger Energie für die Abwendung negativer Erscheinungen wie Betrug und Korruption
aufzuwenden.14 Zugleich beruht Sozialkapital auf Einstellungsmustern und Verhaltensweisen,
die aufgezehrt und zerstört werden können, wenn sie nicht ständig durch konstruktive
interpersonale Beziehungen (freimaurerisch gesagt: »Mitmenschlichkeit«) erneuert, weiterentwickelt
und gepflegt werden.
Sozialkapitel gilt als wichtig für die Stabilität der Demokratie15, die Lebensfähigkeit
der pluralistische Gesellschaft, die Entwicklung von Kultur und Bildung, die Förderung
von Sport und physischer Gesundheit sowie die Gewährleistung von Glück und seelischer
Gesundheit. Sozialkapital dient auch der gesellschaftlichen Integration von Minderheiten:
Armen, Obdachlosen, Waisen, Kranken, Behinderten, Aussiedlern und Ausländern.
Sozialkapital hat verschiedene Erscheinungsformen, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten
gegenüberstellen lassen:16
Formelles Sozialkapital versus informelles Sozialkapital. Während manche Formen von
Sozialkapital formell organisiert sind (Familie, Kirche, Verein, Loge, Verband, Partei), d.h.
durch formelle Organisation, offizielle Mitgliedschaft, Mitgliedsbeiträge, Satzungen, Vorstände
und Funktionäre, regelmäßige Sitzungen und dergl. mehr gekennzeichnet sind,
haben andere Formen von Sozialkapital einen vorwiegend informellen Charakter. Beispiele
hierfür sind gemeinsame Wanderungen von Bekanntenkreisen, spontane sportliche
Betätigung in Gruppen, Teilnahme an Nachbarschaftsfesten und Protestversammlungen.
Beide Arten von Sozialkapital stellen zwischenmenschliche Vernetzungen dar und können
sich überschneiden. So sind Logen und Großlogen formelles Sozialkapital, das spontane
Treffen von Brüdern im Rahmen der Logen- und Großlogenorganisation hat informellen
Charakter.
Langfristiges Sozialkapital versus kurzfristiges Sozialkapital. Verwandt, aber nicht identisch
mit der zuvor genannten Unterscheidung ist die Gegenüberstellung von Sozialkapital,
das auf Dauer angelegt ist (etwa Logenzugehörigkeit, die – idealiter – vom Lebensbundprinzip
bestimmt wird), und Sozialkapital, das – etwa in Form von Bürgerinitiativen und
Notgemeinschaften – lediglich vorübergehend wirkt. Insbesondere das formelle Sozialkapital
nimmt gegenwärtig an Dauer ab, etwa dadurch, dass die Zugehörigkeit zu Parteien und
Vereinen kurzfristiger wird. Mit der Entwicklung moderner Gesellschaften hin zur Postmoderne
scheint die Bereitschaft der Bürger, sich mit Mitbürgern auf dauerhafte soziale
Beziehungen einzulassen und sich um andere zu kümmern, abzunehmen. Zwar finden sich
zahlreiche in diese Richtung zielende Überlegungen bereits im 19. Jahrhundert, und die
13 S. zu verschiedenen Aspekten von Vertrauen: Welter, Friederike: Vertrauen und Unternehmertum im
Ost-West-Vergleich, in: Meier, Christian/Pleines, Heiko/Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Ökonomie –
Kultur – Politik, Festschrift für Hans-Hermann Höhmann, Bremen 2003, S. 127ff.
14 Vgl. hierzu und zum Folgenden Zimmermann, Karsten: Sozialkapital, a.a.O., S. 1ff.
15 Ein Gesichtspunkt, der schon in den Überlegungen von Alexis de Tocqueville auftaucht. Vgl. de Tocqueville,
Alexis: De la démocratie en Amérique, 2 Bde., Paris 1835/1840 (dt.: Über die Demokratie in
Amerika, Stuttgart 1959).
16 Die Darstellung folgt weitgehend Putnam, Robert D./Goss, Kristin A.: Einleitung, in: Putnam, Robert
D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn, a.a.O., S. 25ff.
135
Entstehung des Fachs Soziologie hat nicht wenig mit eben dieser Diagnose zu tun. Doch
ist gerade in jüngster Zeit eine breite Diskussion über diese Thematik entstanden. Unter
dem Stichwort »Schwächung des Sozialkapitals« werden in dieser, insbesondere von Robert
D. Putnam (»Bowling alone«)17 initiierten Debatte verschiedenartige Befunde erörtert, die
sich auf die zurückgehende Vereinstätigkeit, auf das schwindende politische Engagement
und allgemein auf den abnehmenden Gemeinsinn der Bürger in modernen Gesellschaften
beziehen. Putnams Buch enthält auch anschauliches Material zum starken Rückgang der
Mitgliedschaft in Freimaurerlogen und bruderschaftlichen Vereinigungen in den USA seit
Mitte der 60er Jahre.
Brückenbildendes Sozialkapital versus abschottendes (bindendes) Sozialkapital. Brückenbildendes
Sozialkapital bezieht sich auf soziale Netzwerke, die unterschiedliche (heterogene)
Menschen zusammenbringen. Für die Freimaurerei formulieren dies geradezu
klassisch die »Alten Pflichten«, wenn sie konstatieren, der Bund sei ein Mittel, »treue
Freundschaft unter Personen zu stiften, welche sonst in ständiger Entfernung voneinander
hätten bleiben müssen«18 (kursiv von H.-H. H.). Bindendes Sozialkapital hält dagegen homogene
Mitgliedergruppen zusammen und schottet diese gegen die soziale Umwelt oder
– innerhalb der Gruppe – gegen andere Teile der Gruppe ab. Logen verstehen sich ihrer
konzeptionellen Legitimierung nach als brückenbildendes Sozialkapital, die »Menschen,
Menschen, immer neue Menschen«19 einbeziehen wollen. Logen können in der Realität
allerdings auch ausgrenzend wirken und weisen zudem in ihrer Binnenstruktur Elemente
auf, die bei unzureichender Reflexion und Kommunikation geeignet sind, Trennungen und
Entfremdungen innerhalb der Logengruppe zu bewirken.
Innenorientiertes Sozialkapital versus außenorientiertes Sozialkapital. Innenorientiertes
Sozialkapital ist primär auf die Förderung von materiellen, sozialen und politischen Interessen
der Netzwerkmitglieder orientiert. Es ist damit auf die Gewährleistung von privatem
oder gruppenspezifischem Nutzen angelegt. Die Absicht, der Förderung des Gemeinwohls
zu dienen und »öffentliche« Güter anzubieten, tritt dagegen in den Hintergrund. Diese
aber dominiert beim außenorientierten Sozialkapital. Das Sozialkapital der Freimaurerei ist
der Idee nach außenorientiert. Auch die Rituale enthalten deutliche Appelle in dieser Richtung:
»Geht nun zurück in die Welt und bewährt Euch als Freimaurer. Wehret dem Unrecht,
wo es sich zeigt. Kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken. Seid wachsam
auf Euch selbst.«20 De facto bietet die Loge aber auch Gruppen- und individuelle Güter an
(Selbstverwirklichung, Statuserhöhung durch Ämter und Orden), die nicht immer mit der
postulierten Außenorientierung und deren Wertgrundlage kompatibel sind.
17 Putnam, Robert D.: Bowling alone, a.a.O., S. 367ff.
18 »But though in ancient Times Masons were charg’d in every Country to be of the Religion of that
Country or Nation, whatever it was, yet ’tis now thought more expedient only to oblige them to that
Religion in which all Men agree, leaving their particular Opinions to themselves; that is, to be good
Men and true, or Men of Honour and Honesty, by whatever Denominations or Persuasions they may
be distinguish’d; whereby Masonry becomes the Center of Union, and the Means of conciliating true
Friendship among Persons that must have remain’d at a perpetual Distance«, zitiert nach Lennhoff, Eugen/
Posner, Oskar/Binder, Dieter A.: Internationales Freimaurerlexikon, München 2000, S. 12, deutsche
Übersetzung, ebenda S. 19.
19 Formel aus dem Ritual der Loge »Ver Sacrum«, Köln.
20 Schlussformel der Rituale der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland.
136
Sozialkapital hoher Dichte versus Sozialkapital geringer Dichte. Dichtes Sozialkapital
wird von Putnam und Goss am Beispiel einer Gruppe von Stahlarbeitern beschrieben,
»die tagsüber in der Firma zusammenarbeitet, sich am Samstag zum Kegeln trifft und am
Sonntag die katholische Messe besucht«.21 Es besteht also aus einer vielfältigen, intensiven
Verbindung der Gruppenmitglieder. Sozialkapital geringer Dichte ist dagegen durch eindimensionale,
lockere und oft flüchtige Verbindung zwischen Menschen gekennzeichnet,
für deren Verhältnis ansonsten eine weitgehende soziale Distanz typisch ist. Dass sich das
Sozialkapital der Freimaurerei offenkundig von größerer zu geringerer Dichte entwickelt,
macht einen Teil ihrer Gegenwartsprobleme aus und wird später ausführlicher erörtert.
Unterscheiden lässt sich ferner positives Sozialkapital, das Nutzen im Sinne einer Förderung
von Gemeinwohl schafft, ohne Schaden für andere mit sich zu bringen, und negatives
Sozialkapital, das Nutzen für bestimmte Gruppen und Personen bringt, aber anderen
schadet, bis hin zu kriminellen Verhaltensweisen (Korruptionsnetzwerke, organisierte Kriminalität).
Kriminelles Sozialkapital ist in hohem Maße innenorientiert und abschottend
(bindend). Im Maße der Intensivierung und Professionalisierung der kriminellen Aktivitäten
nimmt zudem seine Dichte zu. Dies resultiert aus dem umfassenden Bestreben, innerhalb
einer kriminellen Vereinigung alle Tätigkeitsfelder der Mitglieder zu kontrollieren. Gesichtspunkte
negativen Sozialkapitals tauchen regelmäßig in Verschwörungsvorstellungen
auf, die sich gegen die Freimaurerei wenden.22
Sozialkapital in den Freimaurerlogen
Die mannigfaltigen Beziehungen, die zwischen Freimaurerlogen und dem Sozialkapital-
Konzept bestehen, wurden bereits mehrfach angesprochen. Im Folgenden soll diesen Beziehungen
ausführlicher und systematischer nachgegangen werden. Zwei Gesichtspunkte vor
allem sind bedeutsam:
• Erstens haben sich Freimaurerlogen im Selbstverständnis schon frühzeitig als »Agenturen
für Sozialkapital« verstanden.
• Zweitens stellen Logen enge interpersonelle Vernetzungen dar, die mit Begriffen und
Konzepten der Sozialkapitaltheorie analysierbar sind.
Beide Gesichtspunkte sind miteinander verbunden: Logen tragen in dem Maße zu dem in
der Gesellschaft wirksamen Sozialkapital bei, in dem ihnen zum einen die Fähigkeit zugesprochen
werden kann, in sich selbst (positives) Sozialkapital zu produzieren und zu steigern
und in dem sie zum anderen in der Gesellschaft quantitativ und qualitativ signifikant
vertreten sind, um mit ihrem Bestand an Sozialkapital wahrnehmbar zum Angebot an »öffentlichen
« Gütern beizutragen, die das Gemeinwohl fördern und dazu beitragen, das Sozialkapital
der Freimaurerei durch Außenbewährung erweitert zu reproduzieren.
Zum ersten Gesichtspunkt – Sozialkapital in den Logen – kann festgehalten werden,
dass sein Bestand und seine Entwicklung von mindestens drei zentralen Faktoren abhängen:
21 Putnam, Robert D./Goss, Kristin A.: Einleitung, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn,
a.a.O., S. 26.
22 Unter neueren Veröffentlichungen hierzu vgl. insbesondere die Beiträge in: Reinalter, Helmut (Hrsg.):
Verschwörungstheorien. Theorie, Geschichte, Wirkung, Innsbruck 2003.
137
Der erste Faktor ist die Dichte der Vernetzung innerhalb der Loge. Hierzu gehören vor allem
der Grad der Partizipation der Brüder an Logenveranstaltungen, das Ausmaß der zwischen
ihnen bestehenden Freundschaftsbeziehungen, der Grad des gegenseitigen Vertrauens sowie
die Fähigkeit zur Austragung und Überwindung von Konflikten. Die vielfältige Palette
an Bindungen der Logenmitglieder und Einbindungen des einzelnen Freimaurers wurde
und wird immer wieder als Hauptelement der Logengemeinschaft erlebt und beschrieben.
In Anbetracht der geringen Aussagekraft subjektiver Einsichten in die Logenpraxis und des
bisherigen Fehlens eingehender empirischer Untersuchungen für Deutschland kommt einer
Repräsentativerhebung größere Bedeutung zu, die Ende der 90er Jahre unter dem Titel
»Sinn-Dimensionen der Freimaurerei« im Rahmen der Freimaurer-Akademie der Großloge
von Österreich durchgeführt wurde.23 Dabei wurden in 42 Logen Befragungen durchgeführt
und 800 Fragebögen in die Analyse einbezogen. Es sollte u.a. ermittelt werden, in welcher
Abfolge »freimaurerische Sinn-Dimensionen« festzustellen sind (verstanden als der einer
Mitgliedschaft in der Loge beigemessene subjektive »Sinn«). Nach der Häufigkeit ihrer
Nennung in den Befragungen geordnet ergab sich eine Abfolge folgender Sinndimensionen:
Soziale Nähe; Lebenssinn; Esoterik; Selbstentfaltung und Bildung. Die an erster Stelle genannte
Sinndimension »Soziale Nähe« wird im Wesentlichen als »Erlebnis von Freundschaft
und menschlichen Beziehungen im Gespräch und anderen sozialen Kontakten zu gleichgesinnten,
interessanten Menschen« verstanden. Sie wurde von einer »überwältigenden Mehrheit
« aller Befragten als wesentlich genannt.
Meine durch Gespräche, Beobachtungen und Untersuchungen gestützte Hypothese
zur Dichte des Sozialkapitals der Logen ist allerdings, dass die gegenseitige Vernetzung der
Brüder gegenüber früheren Perioden (konkret bis in die 60er Jahre hinein) in vielen Fällen,
wenn auch keineswegs in allen, als abnehmend zu kennzeichnen ist. Es kommt gehäuft
zu Austritten, zu einer Zunahme der »inneren« Deckung (abnehmende Partizipation der
Mitglieder an Logenveranstaltungen, die im Allgemeinen zwischen 25–40 Prozent liegen
dürfte), zu rückläufigen Kontakten der Brüder außerhalb der Logenveranstaltungen, zu
abnehmenden Freundschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedern. War man früher oft
erst Freund (Verwandter, Bekannter, Berufskollege) und dann Bruder, so hat sich – u.a.
auch aufgrund eines veränderten Rekrutierungsmusters24 – die Reihenfolge verändert: Heute
werden durch Initiation von Suchenden, mit denen man oft wenig vertraut ist, weil sie in
der Regel über »Schleppnetze« (öffentliche Veranstaltungen, Internet) zur Loge gekommen
sind, zuerst »rituelle« Brüder gewonnen, die dann – manchmal! – zu Freunden werden. Zu
geringe Umsetzung deklarierter freimaurerischer Werte in den Stil des Umgangs miteinander
führen nicht selten zu Konflikten. Diese Konflikte haben unterschiedliche Ursachen.
Teils sind sie in persönlicher Spannungen begründet, etwa in Auseinandersetzungen um
die Besetzung von Ämtern, teils sind sie auf Unstimmigkeiten zwischen Teilgruppen innerhalb
der Logengemeinschaft zurückzuführen, wobei Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft
in bruderschaftlichen Vereinigungen (»Hochgradsystemen«) eine auslösende bzw.
verstärkende Rolle spielen kann, teils handelt es sich um Zielkonflikte, die mit bestimmten
23 Gehmacher, Ernst/Russ, Kurt: Sinn-Dimensionen der Freimaurerei. Eine Studie zur Katalysator-Wirkung
der Freimaurerei in Österreich, Wien 1999, hier vor allem S. 5ff.
24 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei und gesellschaftliche Gegenwart: Umfeld, Identität, Perspektiven,
in: Berger, Joachim/Grün, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche
Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 343–350, hier S. 345.
138
Logenaktivitäten, z.B. dem Erwerb oder Umbau eines Logenhauses zusammenhängen. Die
genannten Konfliktkonstellationen können sich mischen und überlagern und lassen zudem
Einflüsse erkennen, die von logenübergeordneten Disputen, etwa von Reform- und
Regularitätsfragen, ausgehen, welche zu Stellungnahmen und Verfügungen übergeordneter
freimaurerischer Körperschaften (Distrikts-, Provinzial- und Großlogen) führen, die wiederum
innerhalb der Logen auf Widersprüche stoßen und Konflikte auslösen können. Die
genannten Konflikte sind keineswegs neu: Sie haben vielmehr die Freimaurerei seit ihrer
Gründung begleitet und sind letztlich auch darauf zurückzuführen, dass Freimaurerei sich
in ihrer gesamten Geschichte als Raum repräsentierte, »in dem vieles möglich war«25, der
folglich institutionell, konzeptionell und rituell unterschiedlich ausgefüllt wurde, was dazu
führte, dass es nie die eine Freimaurerei, sondern immer viele Freimaurereien gab, um deren
Gestaltung von zahlreichen Gruppierungen und Personen mit sehr verschiedenen persönlichen
Auffassungen gerungen wurde.
Der zweite Faktor hängt mit dem Verhältnis von Brückenbildung und Abschottung
im Inneren und nach außen sowie mit den relativen Anteilen von außen- und innenorientiertem
Sozialkapital in den Logen zusammen. Positiv zu werten wären hier vor allem
das Ausmaß der Offenheit für »neue Menschen«, der Grad der Aufmerksamkeit für Angelegenheiten
des Gemeinwesens (das Vorhandensein der »Dimension Gemeinsinn« in
der Freimaurerei) sowie das gesellschaftliche Aktivitätsniveau von Logen und einzelnen
Freimaurern. Meine beobachtungsgestützte Hypothese deutet auch hier auf Stärken, aber
auch auf Schwachstellen hin: zu geringe Neugier auf »neue Menschen« (Beispiel: das nicht
selten festzustellende menschliche Desinteresse der Brüder an Besuchern auf Gästeabenden,
zu dem die gelegentliche Überhäufung mit Informationen und Aufnahmeangeboten nur
scheinbar kontrastiert), Fehlen eines bewährten Konzepts für Öffnung zur Gesellschaft,
Probleme mit der Balance zwischen Esoterik und Exoterik. Andererseits bemühen sich die
Logen um Öffnung. Soziales Handeln innerhalb der Kommunen in verschiedenen Formen
findet ebenso statt wie regionales und überregionales karikatives Engagement. Auch ist
die Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen bei bewusster Vermeidung
partei- und verbandspolitischer Positionen immer mehr zum Gegenstand von Reflexionen
in den Logen geworden.
Eine im Rahmen des Bielefelder Forschungsprojekts26 für die Jahre 1991–2003 vorgenommene
Auswertung27 von rd. 2000 monatlichen Veranstaltungsplänen (»Arbeitskalendern
«) von ca. 60 Logen aus den Regionen Niedersachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen ergab für »öffentliche« Veranstaltungen
(d.h. für Veranstaltungen mit meist geladenen Gästen, die nicht dem Freimaurerbund angehören)
einen Anteil von 15–20 Prozent an der Zahl aller Veranstaltungen. Dieser – für
Außenstehende gering erscheinende – Anteil ist darauf zurückzuführen, dass wesensgemäß
auf Veranstaltungen mit freimaurerischem Brauchtum (Tempelarbeiten) und Treffen im
Mitgliederkreis ohne Gäste ein hoher Anteil der Logenveranstaltungen entfällt. Die in
geschlossenen und offenen Logenveranstaltungen behandelten Themen (etwa 900 Themen
25 Neugebauer-Wölk, Monika: Einführung zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler
und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. XVIII.
26 Forschungsprojekt »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der soziologischen Fakultät der Universität
Bielefeld (2000–2005), Leitung: Prof. Dr. Jörg Bergmann, Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann.
27 Bearbeiterinnen Susanne Baginski und Lisa Hürter.
139
von Vorträgen und »Zeichnungen« wurden erfasst) sind auf sogenannte »freimaurerische
Themen« konzentriert, d.h. auf Themen, die Geschichte, Symbole und Rituale bzw. Einzelaspekte
davon zum Gegenstand haben. Im Sinne der oben angesprochenen zunehmenden
Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen ist jedoch bemerkenswert,
dass auf Themen, die in einem weiteren Sinne politisch, gesellschaftspolitisch und kulturpolitisch
orientiert waren, ein Anteil von zwischen 20 und 25 Prozent entfällt und dass
Themen mit politischer Aktualität im engeren Sinne unter allen behandelten Themen
immerhin mit einem Anteil von 5–12,5 Prozent vertreten sind.
Der dritte Faktor betrifft das Verhältnis von Sozialkapital zu anderen Ressourcen (Formen
von Kapital) der Loge. Hierbei spielen das finanzielle Kapital (Vermögen, Beitragsaufkommen,
Logenhaus, Stiftungen), das kulturelle Kapital (Tradition, Ansehen, kulturelle
und künstlerische Fähigkeiten) sowie das Humankapital (Bestand an »Persönlichkeiten«,
Mitgliederrekrutierung aus Eliten) eine besondere Rolle. In der Vergangenheit (sowohl
in der sich transformierenden Ständegesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als
auch in der klassischen »bürgerlichen« Gesellschaft der 2. Hälfte des 19. und der 1. Hälfte
des 20. Jahrhunderts) ließen sich jeweils recht hohe Kapitalbestände beobachten. Heute
herrscht dagegen in der deutschen Freimaurerei »Kapitalmangel« auch in Bezug auf alle
anderen Kapitale neben dem Sozialkapital: geringe materielle Ressourcen, Probleme mit
dem Bestand an Logenhäusern, Defizite beim kulturellen Kapital (wenn es hier auch einen
beträchtlichen Fundus an Tradition und Ansehen gibt, der durch »externe Ressourcen« vermehrt
werden könnte), Mangel an »charismatischen« Persönlichkeiten. Kulturelles Kapital
ging nicht zuletzt auch dadurch verloren, dass die dem traditionellen Bildungsbürgertum
vergleichbaren sozialen Gruppen der heutigen Gesellschaft nicht mehr in früherer Größenordnung
in der Freimaurerei vertreten sind.
So kann man sich dem Fazit wohl kaum verschließen, dass das Sozialkapital innerhalb
der Logen (wie auch die anderen genannten Ressourcen) im historischen Vergleich
zurückgegangen ist. Andererseits: Die Sozialform Loge mit ihrem permanenten Angebot
an menschlich kommunikativer Geselligkeit, die Ideenwelt der Freimaurerei mit der für sie
kennzeichnenden Betonung humanitärer Werte sowie die rituelle Praxis mit der durch sie
vermittelten spirituellen Erfahrung und ständigen Einübung in mitmenschliche Verhaltensstile
machen die Loge zumindest potenziell zu einem gewichtigen Träger von sozialem
Kapital auch in der gegenwärtigen Gesellschaft.
Freimaurerei in der deutschen Gesellschaft
Als zweite Voraussetzung, für einen positiven Beitrag der Freimaurerei zu dem in der Gesellschaft
wirksamen Sozialkapital beizutragen, war die Fähigkeit der Logen genannt worden, in
der Gesellschaft quantitativ und qualitativ signifikant vertreten zu sein, um das Angebot an
»öffentlichen« Gütern, die für die Förderung des Gemeinwohls geeignet sind, mit ihrem Bestand
an Sozialkapital wahrnehmbar zu vergrößern.
Hier ist gleichfalls aus verschiedenen Gründen Skepsis angebracht, doch es ist zunächst
zu betonen, dass die Lage der Freimaurerei in Deutschland auch durch eine
Reihe positiver Grundzüge gekennzeichnet ist, die auf absehbare Zeit eine solide Entwicklungsbasis
repräsentieren: Die Freimaurerei, vertreten vor allem durch die Sozial140
form Loge, ist offenbar stabil, die Logen leben und arbeiten, wenn auch gewiss mit
unterschiedlicher Intensität und Ausstrahlung. Die lokale Beachtung des Bundes ist
beachtlich: Wohlmeinende Worte der Oberbürgermeister und positive Erwähnungen
in der örtlichen Presse sind eher Regel als Ausnahme, und auch das generelle, regional
übergreifende Beurteilungsklima ist nicht ungünstig, wie nicht zuletzt die großen Freimaurerausstellungen
(u.a. in Weimar, Jena und Bremen) nachdrücklich gezeigt haben.28
Die Forschung an Universitäten und Instituten hat die Freimaurerei entdeckt: Die Zahl
der Habilitationen, Dissertationen und Magisterarbeiten zu freimaurerischen oder zumindest
freimaurerrelevanten Themen steigt, es bilden sich Brücken zwischen externuniversitärer
und intern-freimaurerischer Forschung, die dem Ansehen der Bruderschaft
zugutekommen.29 Die deutschen Großlogen repräsentieren aufs Ganze gesehen funktionsgemäß.
Vor allem aber lieben viele Mitglieder den Bund, hängen an ihm und setzen
sich für ihn ein. All das macht deutlich, dass die deutsche Freimaurerei in ihrer schlichten
Lebensfähigkeit nicht bedroht ist und auf absehbare Zeit ein tragfähiges personelles
und finanzielles Fundament besitzt.
Dennoch ist, wie zuvor erwähnt, Skepsis angebracht, vor allem unter den folgenden fünf
Gesichtspunkten:
• Stagnierende Zahl der Freimaurer,
• problematische Logengründungen,
• ungünstige Altersstruktur,
• Teilverlust gewünschter Zielgruppen, und
• Entwicklungsprobleme in den östlichen Bundesländern
Erstens: Die Zahl der Freimaurer in Deutschland stagniert, vermutlich ist sie aufs Ganze
gesehen sogar eher rückläufig, wobei sich deutliche regionale Aktivitätsunterschiede zeigen.
30 Nach den Angaben über die Mitgliedszahlen der Logen in den »Jahrbüchern der Vereinigten
Großlogen von Deutschland« (VGLvD), die allerdings nur als annähernd genau
gelten können, nahm die Gesamtzahl der Mitglieder der drei in den VGLvD zusammengefassten
deutschen Großlogen zwischen 1960 und 2008 von knapp 18.000 auf ca. 13.000,
d.h. um ca. 27 Prozent ab. Dabei verlor die Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland (2008
ca. 8930 Mitglieder) ca. 16,5 Prozent, die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland
(2008 ca. 3120 Mitglieder) ca. 30 Prozent und die Große National-Mutterloge »Zu den
drei Weltkugeln« (2008 ca. 750 Mitglieder) ca. 37,5 Prozent ihres Mitgliederbestandes. Die
GL A.F.u.A.M. weist allerdings seit 2005 wieder zunehmende Mitgliederzahlen aus. Unterschiedlich
verlief die Entwicklung auch in den einzelnen Städten. Unter den fünf großen
städtischen Zentren der deutschen Freimaurerei mit einem Mitgliederbestand von jeweils
über 400 Maurern im Jahre 2008 (und einem Anteil am gesamten deutschen Mitgliederbe-
28 Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik,
21. Juni bis 31. Dezember 2002, Schiller-Museum; Logenbrüder, Alchemisten und Studenten. Jena
und seine geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert, Stadtmuseum Jena, 2002; Licht ins Dunkel. Die
Freimaurer und Bremen, 2. Juli bis 29 Oktober 2006, Focke-Museum.
29 Vgl. hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft, a.a.O., S. 229–239.
30 Statistische Angaben nach Datenbank des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart«,
Bearbeiterinnen Susanne Baginski, Lisa Hürter und Maja Kandzorra.
141
stand von knapp 30 Prozent) hatten Hamburg ca. 52 Prozent, Berlin ca. 40 Prozent und
Hannover ca. 25 Prozent ihrer Mitglieder seit 1960 verloren. In Bremen ist die Mitgliederzahl
im gleichen Zeitraum nur um etwa elf Prozent gesunken. Dagegen zählten die Logen
in München im Jahre 2008 ca. 48 Prozent mehr Freimaurer als 1960. Allerdings verlief die
Entwicklung zwischen 1960 und 2000 auch für die expandierenden Logen nicht gleichförmig.
Teilweise verfügten sie zwar im Vergleich mit 1960 im Jahre 2008 einen höheren Mitgliederbestand,
hatten jedoch zuletzt gegenüber höheren Beständen in der Zwischenzeit
wieder an Mitgliedern verloren. Die Mitgliederzahlen sind nicht nur kennzeichnend für die
Lage der Freimaurerei in Deutschland, sie charakterisieren auch die Situation der einzelnen
Logen. Gliedert man die Logen in die fünf Kategorien sehr groß (über 100 Mitglieder), groß
(51–100 Mitglieder), mittelgroß (31–50 Mitglieder), klein (21–30 Mitglieder) und sehr klein
(über 1–20 Mitglieder), so ergibt sich für die fünf großen städtischen Zentren der deutschen
Freimaurerei folgende Verteilung:
Berlin, 38 Logen, davon sehr groß 0, groß 3, mittelgroß 5, klein 18, sehr klein 12;
Hamburg, 34 Logen, davon sehr groß 1, groß 5, mittelgroß 12, klein 9, sehr klein 7;
Hannover, 8 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 4, klein 0, sehr klein 0;
Bremen, 7 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 3, klein 0, sehr klein 0;
München, 9 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 2, klein 2, sehr klein 1.
Geht man davon aus, dass für eine sichere Zukunftsentwicklung mindestens der Status »mittelgroße
Loge« erreicht werden sollte, so sind Lage und Perspektiven der Freimaurerei in Berlin
(Anteil kleiner und sehr kleiner Logen = 79 Prozent) und Hamburg (Anteil kleiner und
sehr kleiner Logen = 47 Prozent als nicht günstig einzuschätzen, während die Logenstruktur
in Hannover und Bremen als stabil und dynamisch bezeichnet werden kann. Freilich unterscheiden
sich die Entwicklungsperspektiven einzelner Logen nicht unbeträchtlich voneinander,
und auch in Regionalbereichen mit ungünstiger Gesamtperspektive sind große und
dynamische Logen anzutreffen, denen es allerdings schwerfällt, ungünstige Tendenzen in ihren
Umfeldern zu kompensieren. Mehr als 100 Mitglieder haben innerhalb der deutschen
VGLvD-
Großlogen gegenwärtig neun Logen, sieben davon gehören zur GL A.F.u.A.M., zwei
zur GL FvD.
Die Gründe für den fallenden Gesamttrend wurden schon im Zusammenhang mit
der auch im internationalen Vergleich weithin zu konstatierenden abnehmenden Bereitschaft
zum formellen Engagement in Assoziationen aller Art, darunter auch in Logen
und anderen ethisch orientierten Vereinigungen, erörtert. Interessant sind darüber hinaus
die beträchtlichen örtlichen Unterschiede. Sie erklären sich einmal aus der Stärke der
Freimaurer in der Zeit vor dem Einsetzen der Abnahmetendenzen: je stärker die Freimaurerei
war (Hamburg, Berlin), desto stärker ist sie von Rückgang betroffen. Je mehr
sie gleichsam »historischen Nachholbedarf« hatte (München), desto besser konnte sie
sich stabilisieren. Dazu kommen als Erklärungsfaktoren Aktivität und Ausstrahlung der
Logen, insbesondere Aktivität und Charisma der leitenden Meister. Logen unterscheiden
sich nicht nur nach Sinn- und Aktivitätsmustern sowie nach Mitgliederprofilen, sondern
auch nach Dynamik und Erfolg ihrer Arbeit. Aktiven Logen mit deutlich wahrnehmbarer
sozialer und kultureller Ausstrahlung, wachsenden Mitgliederzahlen und einem beträchtlichen
Maß von sozialer Anerkennung im öffentlichen Umfeld (insbesondere seitens der
142
kommunalen Öffentlichkeit) stehen Logen gegenüber, deren Mitgliederbestand rückläufig
und in besonderem Maße überaltert ist und in denen die Partizipation an Logenveranstaltungen
überdurchschnittlich gering ausfällt. Die Beispiele Bad Reichenhall, Bad Pyrmont
und Hameln mit einer gemessen an der Bevölkerungszahl günstigen Mitgliederentwicklung
lassen vermuten, dass die Freimaurerei gerade in kleinen und mittleren Städten gute
Entwicklungschancen besitzt, sofern es den Logen gelingt, die öffentliche Meinung der
Kommunen durch Leistung und persönliches Ansehen von Logenmitgliedern nachhaltig
für sich einzunehmen. Dann funktionieren auch die alten Rekrutierungsmuster wieder:
Freunde, Verwandte und Berufskollegen werden häufiger in die Loge eingeladen und nicht
selten auch zu neuen Mitgliedern.
Die folgenden Grafiken (S. 143–145) sollen die Mitgliederbewegung deutscher Großlogen
und Logen für die Periode 1960–2008 sowie die Entwicklung der Zahl der Logen im
gleichen Zeitraum veranschaulichen. Für die Gesamtheit der Mitglieder der drei deutschen
VGLvD-Großlogen (Summe I, II, III) und die Mitgliederzahlen der einzelnen Großlogen
(GL A.F.u.A.M. v.D, GLL FvD, GNML 3WK) ist zu berücksichtigen, dass der in den
Schaubildern aufgezeigte Aufschwung nach 1990 vor allem auf die Zunahme von Doppelmitgliedschaften,
die im Zuge des Wieder- bzw. Neugründungsprozesses in den neuen
Bundesländern eingegangen wurden, zurückzuführen ist und keine Zunahme der Zahl der
Freimaurer in Deutschland beinhaltet. Die sich daran anschließenden Schaubilder mit den
Daten der Logen im Westen (alte Bundesländer) sind dagegen kaum durch Doppelzählungen
verzerrt.
143
Schaubilder zur Entwicklung der deutschen Freimaurerei
1960–200831
31 Vgl. Anmerkung 30.
144
145
146
Um die Ergebnisse der quantitativen Untersuchungen national, international und zeitlich
vergleichbarer zu machen, empfiehlt es sich, für die Freimaurerei nationale und regionale
»Membership Rates« zu ermitteln. Dies Verfahren wählt Robert D. Putnam in seinem schon
verschiedentlich in diesem Beitrag zitierten und für die Sozialkapitalforschung maßgeblich
gewordenen Buch »Bowling alone. The Collapse and Revival of American Community«.
Putnam untersucht die soziale Einbindung und kommunikative Vernetzung der amerikanischen
Bevölkerung und weist dabei u.a. nach, dass die formelle Mitgliedschaft in gesellschaftlichen
Organisationen im Verlauf der letzten 30–40 Jahre beträchtlich zurückgegangen
ist. Dies gilt auch für die Mitgliedschaft in Logen, anderen freimaurerischen Gruppierungen
(Shriners) sowie sonstigen ethisch orientierten Assoziationen wie Lyons, Rotary und
Kiwanis. Putnam veranschaulicht diesen Trend an der Entwicklung der zuvor erwähnten
»Membership Rates« (im Falle der genannten Vereinigungen Zahl der Mitglieder je 1000
Männer über 20 Jahre). Nach seinen Ermittlungen sank die »Membership Rate« der Freimaurerlogen
in den USA von ca. 80 im Jahre 1960 auf ca. 20 im Jahre 2000.32 Bis 2008 ist die
Rate weiter abgesunken und liegt nur noch bei 13,4.
Wendet man das Membership-Rate-Konzept auf Deutschland an, so ergibt sich aufgrund
der Einwohnerstatistik und der Daten des Bielefelder Forschungsprojekts für das
Jahr 2008 eine Membership Rate von ca. 0,4 für die deutsche Freimaurerei insgesamt. Für
die erfassten großen Städte ergeben sich – in abnehmender Reihenfolge – folgende (ungefähre
und vorläufige!) Raten: Bremen = 2,6; Hannover = 2,6; Hamburg = 2,0; Frankfurt
= 1,2; München = 0,9; Berlin = 0,7. Wesentlich höher sind die Raten in einigen kleineren
Städten, wo nur eine Loge die Freimaurerei vertritt und es offenbar vermocht hat, den
Bund im gesellschaftlichen und kulturellen Milieu der Stadt zu verwurzeln. Als Beispiele
können folgende Städte mit für deutsche Verhältnisse hohen »Membership Rates« genannt
werden: Bad Reichenhall (9,6), Bad Pyrmont (7,9) und Hameln (4,3).
Zweitens: Gegenüber der Gesamtzahl der Mitglieder nimmt die Zahl der Logen zu. Gab es
1960 322 »deutsche« Logen in den VGLvD, so war ihre Zahl bis 2008 auf 406 angestiegen
(+
26 Prozent). Diese Entwicklung ist zwar zum größten Teil auf Wieder- und Neugründungen
von Logen in den östlichen Bundesländern zurückzuführen. So wurden zwischen
1990 und 2002 knapp 60 Logen installiert, von denen 50 Wiedereinsetzungen und neun
Neugründungen waren. Das VGLvD-Jahrbuch gibt für das Jahr 2008 einen Mitgliederbestand
von ca. 1300 an (ca. zehn Prozent der Gesamtzahl deutscher Freimaurer).33 Davon
dürfte etwa ein Viertel Doppelmitglieder mit Logenmitgliedschaft in den »alten« Bundesländern
sein, so dass die Zahl »echter« Mitglieder in den »neuen« Bundesländern knapp unter
1000 liegen dürfte (zu diesen gehören sowohl aus den östlichen Bundesländern stammende
und dort wohnende als auch nach dort aus den alten Bundesländern verzogene Mitglieder).
Für die deutschen VGLvD-Großlogen ergibt sich folgende Verteilung:
• GL A.F.u.A.M. v.D.: insgesamt 25 Logen, wiedergegründet 18 Logen, neugegründet sieben
Logen, Gesamtmitgliederzahl 680;
32 Putnam, Robert D.: Bowling alone, a.a.O., S. 438ff.
33 Während die Zahl der Logen genau zu ermitteln ist und die Zahl der Mitglieder insgesamt relativ zuverlässig
sein dürfte, musste die Zahl der »echten« Mitglieder in den neuen Bundesländern aufgrund von
Einzelangaben geschätzt werden und ist vermutlich mehr oder weniger korrekturbedürftig.
147
• GLL FvD: insgesamt 21 Logen, wiedergegründet 21 Logen, neugegründet 0 Logen, Gesamtmitgliederzahl
420;
• GNML 3WK: insgesamt 13 Logen, wiedergegründet 13 Logen, neugegründet 0 Logen,
Gesamtmitgliederzahl 230.
Der oben erwähnte Trend zur Zunahme der Zahl der Logen setzte jedoch im Westen
Deutschlands schon früher ein als 1990/91, war auch in den »alten« Bundesländern nur teilweise
mit einem Wachstum der Mitgliederzahlen verbunden und lässt als Ursachen nicht
nur Pioniergeist, sondern auch innere Spannungen, Spaltungen und persönliche Ambitionen
erkennen.
Drittens: Die Altersstruktur ist ungünstig, das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei
knapp 60 Jahren, es hat sich seit Ende der 1970er Jahre um etwa fünf Jahre erhöht.34 Ob die
zuletzt zumindest bei der GL A.F.u.A.M. spürbare Tendenz einer leichten Absenkung des
Durchschnittsalters den bisher dominierenden Überalterungstrend bricht, bleibt abzuwarten.
Nun lag das Durchschnittsalter der Logenmitglieder – mit der möglichen Ausnahme der
ersten Jahrzehnte der Logengeschichte im 18. Jahrhundert – aufgrund der Anforderungen,
die im Hinblick auf persönliche Reife und bürgerliche Etablierung der »freien Männer von
gutem Ruf« an die Beitrittskandidaten gestellt wurden, in der Regel über dem Durchschnitt
»bürgerlicher« Vereine. Das hohe Durchschnittsalter als solches ist auch noch nicht bedrohlich
für den Bestand der Freimaurerei, schließlich gibt es »junge Alte« und der »Dialog zwischen
den Generationen« mag für jüngere Mitglieder sogar verlockend sein. Außerdem darf
nicht vergessen werden, dass zunehmende Veralterung ein generelles Kennzeichen der deutschen
Gesellschaft ist. Der Anteil der über 60-Jährigen an der deutschen Bevölkerung hat
sich von 17,4 Prozent (1960) auf 26,2 Prozent (2010) erhöht und soll bis 2050 auf 38,9 Prozent
ansteigen.35 Zusammengenommen mit der steigenden Tendenz stellt die gegenwärtige
Altersstruktur der Logen jedoch keine Normalität dar, an die sich die Freimaurerei gewöhnen
könnte, insbesondere, wenn die Perspektiven der kommenden zehn oder 20 Jahre in Betracht
gezogen werden.
Viertens: Berufliche Geltung, Bildung und durchschnittliches Einkommen der Mitglieder haben
(wiederum mit deutlichen Unterschieden) tendenziell abgenommen, was nicht zuletzt
im Zusammenhang mit einer Entwicklung zu sehen ist, auf die bereits im Zusammenhang
mit dem Aspekt Dichte des Sozialkapitals innerhalb der Loge hingewiesen wurde: die veränderten
Formen der Mitgliedergewinnung. Das traditionelle Rekrutierungsschema der Freimaurerei,
das neue Logenmitglieder aus bereits vorhandenen gesellschaftlichen Vernetzungen
(Verwandtschaft, Freundeskreis, Berufskollegenschaft) gewann und das noch beim Wiederaufbau
der deutschen Logen in der Aufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg brauchbar gewesen
war, hat seine Leistungsfähigkeit weitgehend verloren. Heute sehen sich die Logen vor
die Notwendigkeit einer Rekrutierung von Suchenden am (gleichsam) »freien Markt« gestellt,
etwa durch Artikel, öffentliche Vorträge und Annoncen in Zeitungen mit Einladungen zu
Gästeabenden, durch moderne PR-Maßnahmen insgesamt, deren Legitimität allerdings bis
34 Datenbank des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart«.
35 Angaben nach bpb: 2008 Bundeszentrale für Politische Bildung, nach: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung
Deutschlands bis 2050.
148
heute in der deutschen Bruderschaft umstritten ist. Folge der veränderten Rekrutierungsstrategie
war eine zunehmend zufällige Kandidatenauslese, was gelegentlich nicht ohne negative
Auswirkungen auf die Substanz der Logengruppe blieb, andererseits aber auch eine Mitgliedermischung
mit sich brachte, die mehr als je zuvor dem Ideal einer schichtenübergreifenden
sozialen Aufgeschlossenheit entsprach. Diese soziale Öffnung der Logen – wiewohl im Einklang
mit dem traditionellen freimaurerischen Wertekanon einer Orientierung auf den »bloßen
« Menschen – verändert ihren Platz in der »Bürgergesellschaft«, nicht zuletzt im Vergleich
mit anderen »ethisch orientierten Vereinigungen« wie Rotary und Lions.
Fünftens: Die Entwicklung in den aus der DDR hervorgegangenen östlichen Bundesländern36
zeigt, dass es trotz beachtlicher Aufbauerfolge und anhaltend guter Entwicklung eines Teils
der Logen bei mehr als der Hälfte der Logen inzwischen zu beträchtlichen Konsolidierungsschwierigkeiten
gekommen ist. So haben mehr als 40 Prozent der Logen in Mittel- und Ostdeutschland
eine Mitgliederzahl von unter 20, gehören somit zu den sehr kleinen Logen, so
dass Arbeitsfähigkeit und Bestand gefährdet sind. Einerseits wirken sich Gesellschaftsumbruch
sowie Wirtschaftslage auf dem Hintergrund ganz bestimmter kollektiver und individueller Erfahrungen
negativ aus – nicht nur auf die Entwicklung der Logen. Andererseits zeigen sich die
gravierenden Folgen einer 55 Jahre andauernden Unterbrechung freimaurerischer Aktivitäten.
Diesen Kontinuitäts- bzw. Traditionsbruch von fast zwei Generationen hatte es nach dem
Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland nicht gegeben. Zwar mussten auch hier die ehemaligen
Mitglieder wieder gesammelt, die spätestens 1935 aufgelösten Logen neu gegründet und leistungsfähige
Großlogenordnungen geschaffen werden. Doch der Elan der Brüder Freimaurer,
die Verbot und Krieg überlebt hatten, war beträchtlich. Die Freude darüber, zur alten Gemeinschaft
zurückkehren zu können, führte zu einer großen Beteiligung einstiger Mitglieder an den
Neubegründungen, und der Schwung des Aufbruchs bewirkte – auch über zahlreiche Neuaufnahmen
– ein beträchtliches Wachstum der Logen. In der sowjetisch besetzten Zone und später
in der DDR war trotz einiger früher Versuche ein Wiederaufbau der Logen nicht möglich.
Die Neuerrichtung der Freimaurerei konnte erst im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung
ab 1990 erfolgen. Die anfängliche Gründungsdynamik beruhte auf dem Enthusiasmus der »Pioniere
«, die von Westdeutschland aus, begünstigt durch persönliche Beziehungen, berufliche
Verbindungen, Städtepartnerschaften und traditionelle Großlogenstrukturen, alte Logen belebten,
neue gründeten und bald auch die ersten
»Suchenden« in den neuen Bundesländern
aufnehmen konnten. Inzwischen ist die Zahl der mittel- und ostdeutschen Logen wie die Zahl
der dortigen Freimaurerei, wie oben schon gezeigt, weiter angewachsen. Der Aufbau gestaltet
sich aber auch deshalb schwierig, weil die ostdeutschen Logen und ihre Brüder sowohl innerhalb
des Bundes als auch in der umgebenden »profanen« Gesellschaft einer tragenden Einbindung
in soziale, kulturelle und persönliche Kontinuitäten oft entbehren müssen. Dies spiegelt
sich u.a. auch darin, dass zu Beginn des neuen Jahrhunderts noch viele Logenleiter ihren
Wohnsitz in den alten Logenländern hatten: bei der GL A.F.u.A.M. drei von 23, bei der GL
FvD zehn von 20 und bei der GNML 3WK sieben von 15. Für die GL A.F.u.A.M. bedeutete
dies andererseits bereits relativ früh eine weitgehende Selbstleitung der Logen in den östlichen
Bundesländern.
36 Vgl. Templin, Rüdiger: 10 Jahre Freimaurerei im Osten Deutschlands, in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
Nr. 3, 2003, S. 10–13.
149
Zu den Ursachen der negativen Phänomene
Fragt man nach den Ursachen dieser für die Freimaurerei negativen Phänomene, so sinddiese
sowohl außerhalb als auch innerhalb des Bundes zu suchen.
Schwierigkeiten von außen – aus der Struktur der Gesellschaft heraus – kommen deshalb
auf die Freimaurerei zu, weil sich die Strukturen und Tendenzen der heutigen modernen –
in der Regel als »postmodern« gekennzeichneten – Gesellschaft offenbar ungünstig auf die
Freimaurerei auswirken.
Um dies zu verdeutlichen, soll noch einmal pointierend auf vier für die Entwicklung der
Freimaurerei besonders relevante Grundgegebenheiten der gegenwärtigen Moderne bzw.
Postmoderne verwiesen (eine gemeinsam mit Jörg Bergmann verfasste Studie dazu ist im
Jahrbuch 2003 der Forschungsloge »Quatuor Coronati« erschienen)37 und ihre Auswirkungen
auf die Entwicklung unseres Bundes in Stichworten umrissen werden:
1. Postmoderne bedeutet Veränderungen von Glaubenssystemen, Wertorientierungen und
Lebensstilen im Sinne einer immer heterogener, unverbindlicher und flüchtiger werdenden
»Multioptionsgesellschaft« (P. Gross)38. An die Stelle überkommener Verhaltensbindungen
trat für die Menschen mehr und mehr die Möglichkeit der Wahl. Zudem sind
moralische Haltungen und ethische Begründungen in der gegenwärtigen Gesellschaft erheblich
in Misskredit geraten. Freimaurerei ist aber auf Stabilität von sozialer Bindung,
anhaltende Verbindlichkeit ethischer Überzeugung und andauernde spirituelle Erfahrung
in der »rituellen Wiederkehr des Gleichen« angelegt.
2. Postmoderne bedeutet Veränderung von Wahrnehmungen und Interessen im Sinne einer
»Erlebnisgesellschaft« (G. Schulze)39, die sich auf unterhaltsame Events und wechselnde
Oberflächenreize orientiert. Auch hiermit sind grundlegende »Essentials« der Freimaurerei
schwer vereinbar. So etwa das unspektakuläre Ausloten eigener Befindlichkeiten
durch ethisch orientierte Diskurse (»Selbsterkenntnis«), die Entfaltung tradierter Wertvorstellungen
und die Kontinuität der rituellen Einübungspraxis. (Nebenbei: Eine besondere
Facette der »Erlebnisgesellschaft« ist, dass Freimaurerei in der medialen Öffentlichkeit
wieder verstärkt aus dem Blickwinkel von »Verschwörungstheorien« heraus wahrgenommen
wird: Verschwörung ist eben spannend, Ethik erscheint demgegenüber als eher
langweilig.)
3. Moderne heute bedeutet Umstrukturierung und Neuformierung der Realgesellschaft,
geprägt durch Wandlungen in der Arbeitswelt (deren Instabilität gerade junge Berufsanfänger,
insbesondere junge Akademiker als potenzielle Mitglieder des Freimaurerbundes
stark belastet), ein verändertes Verhältnis der Geschlechter zueinander (mit einer Neudefinition
von Rechten, Pflichten und Partnerschaft in Beziehungen, was insgesamt nicht
ohne Auswirkungen auf männerbündisches Engagement bleiben kann) sowie veränderte
Formen sozialer Einbindung bzw. Vernetzung der Menschen, d.h. in der Struktur des
37 Bergmann, Jörg/Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer im Prozeß der Modernisierung heute, in:
Quatuor Coronati Jahrbuch Nr. 40/2003, S. 93–102.
38 Vgl. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/Main 1994.
39 Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankurt/M. 1992;
ders.: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt/M. 1999.
150
»Sozialkapitals« (geringere Bereitschaft zu dauerhafter Bindung an hergebrachte bürgergesellschaftliche
Assoziationen, d.h. das »Putnam-Syndrom«).
4. Insgesamt gesehen bedeuten Moderne heute bzw. Postmoderne das Ende der traditionellen
bürgerlichen Gesellschaft, in der die Freimaurerei entstand und sich entwickelte.
So stellt sich die Frage: Freimaurerei als Sozial- und Kulturform der bürgerlichen Gesellschaft
– hat sie eine Chance gedeihlicher Entwicklung, wenn eben diese Gesellschaft
offenkundig an ihr Ende gekommen ist? Die Freimaurerei hat sich auf das umrissene
Grundproblem, – dass sich der Bund als bürgerliche Reaktion auf vormals aktuelle gesellschaftliche
Problemlagen entwickelt hat, dass die Problemlagen der modernen Gesellschaft
heute jedoch ganz anderer Art sind, – in ihren Selbstthematisierungen bisher nur
unzureichend eingestellt.
Dabei gibt es durchaus Chancen für ihre weitere Entwicklung: Mit der Reizüberflutung verbindet
sich die Sehnsucht nach Nachdenklichkeit, nach Kontemplation, nach Langsamkeit,
nach einem anderen, weniger hektischen Begriff von Zeit, kurz nach Strukturelementen der
Freimaurerei. Menschen suchen – gleichsam entgegengesetzt zum Zeitgeist – Einbindung
und Orientierung. Zwar haben die Strukturen der gegenwärtigen Moderne die für frühes
Bürgertum und entfaltete Bürgergesellschaft selbstverständliche und weit verbreitete Option
der Logenmitgliedschaft weitgehend hinfällig gemacht, doch bleibt die Chance, jene Nachfragenischen
zu nutzen, die die Vielfalt der Postmoderne für Assoziationsformen bereithält,
die eher quer zum herrschenden Trend positioniert sind. Aktive Logen nutzen die hier erkennbaren
Potenziale aus und sind bemerkenswert erfolgreich in ihrer Entwicklung. Auch
die ausgeprägte Dynamik der Frauenlogen in Deutschand40 deutet auf Entwicklungsmöglichkeiten
hin, die eine gründliche Analyse verdienen.
Wenn die erörterten »Nischen« gegenwärtig nur partiell und aufs Ganze gesehen unzureichend
genutzt werden, so ist dies auf Struktur- und Handlungsschwächen des Freimaurerbundes
zurückzuführen, wobei Substanz- und Vermittlungsprobleme unterschieden
werden können.
Was die Substanzprobleme betrifft, so leidet der Freimaurerbund in Deutschland –
aufs Ganze gesehen und trotz einer beeindruckenden Reihe von Gegenbeispielen – an
einem Mangel an Lebenskraft und Ausstrahlung, an Identität und Profil, an gründlichem
freimaurerischen Wissen und Verständnis für das Zusammenspiel von Gemeinschaft, Idee
und Ritual. Oft machen sich menschliche Schwächen bemerkbar, wie man sie eigentlich
in einem ethisch orientierten Bund nicht erwarten sollte. Es gibt Grundstörungen in der
Gruppensituation der Logen, die mit Stichwörtern wie unzureichende Einbindung von
Brüdern, fehlende Harmonie zwischen ihnen, Abhandenkommen von Freundschaft sowie
mangelnde Lebendigkeit der Loge (geistig, rituell, sozial, kulturell), kurz Routinisierung
des Logenlebens innerhalb und außerhalb des rituellen Bereichs, umrissen werden können.
Die Vermittlungsprobleme beziehen sich auf den Umgang mit der Öffentlichkeit, mit
den Menschen um sich herum. Die Freimaurer lassen sich in starkem Maße auf einen
doppelten Vergrößerungseffekt ein: Von außen wird die Freimaurerei traditionell verschwörerisch
überhöht und dämonisiert, von innen reagieren die Freimaurer allzu sehr mit einer
40 Lanik, Monika/Widmann, Helga: Frauen und Freimaurerei: Feminine Freimaurerei in Deutschland im
Spiegel ihrer Entwicklung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 2003, S. 103–120.
151
Attitüde humanitärer Überlegenheit, die im Hinblick auf die Möglichkeit einer nachhaltigen
Realisierung nicht hinreichend hinterfragt wird. Beides sind Fehlverständnisse, die auf
ein flaches, zu wenig auf Wissen begründetes, im ersten Fall aggressives, im zweiten Fall
apologetisches Freimaurerbild zurückzuführen sind.
Zum Schluss lässt sich als Fazit formulieren, dass die Freimaurerei auch in der Postmoderne
eine Chance hat, gesellschaftliche Nachfrage auf sich zu ziehen. Allerdings muss
ihr Angebot an »Sozialkapital« nach Qualität und Substanz attraktiv sein. Freimaurerlogen
haben kein Defizit an gehaltvollen Formen und überzeugenden Ideen: Menschlichkeit,
Geschwisterlichkeit und Toleranz, in redlichen Diskursen aufgearbeitet und in der Logenpraxis
konkretisiert, reichen aus. Freimaurer hätten nach außen und innen an klarer
freimaurerischer Identität zu arbeiten und dabei auf allzu glatte Bilder von Freimaurerei
zu verzichten. Freimaurerei hat aus ihrer Geschichte heraus eine innere Gebrochenheit,
die sich nicht wegdefinieren lässt. Nötig ist deshalb Auseinandersetzung mit Mängeln und
Widersprüchen, die sich in und mit der Geschichte der Freimaurerei entwickelt haben.
Freimaurerei »der Ordnung nach« (heute eher ein Produkt von Reglementierungen und
Ad-hoc-Interventionen) wäre positiv zu bestimmen, die Einordnung in die deutsche und
die internationale Freimaurerei zu klären. Es wäre Eigenes zu leisten und herauszustellen,
beim »Anhängen« an die Humanität anderer (etwa in Form von Preisverleihungen) ist
Vorsicht und Geschmack zu bewahren. Nötig ist Konzentration auf das, was Freimaurerei
ist, nicht auf das, was die Freimaurer wollen. Besonders wichtig ist die Hebung des brüderlichen
Umgangsniveaus durch eine kreative »Logenbaukunst« und – unverzichtbar für den
einzelnen Freimaurer – wirklich ernst genommene und nicht nur deklaratorische Arbeit an
der eigenen maurerischen Verhaltenskultur.
152
Der deutsche Freimaurerdiskurs der
Gegenwart: Was ist, was will, was soll die
Freimaurerei?
Zu den mannigfaltigen Geheimnissen der Freimaurerei gehört offenbar auch dieses: Die
Freimaurerei war nicht nur von Anbeginn an für ihre Umwelt geheimnisvoll, sie ist immer
auch für sich selber ein Stück Geheimnis geblieben, das es in immer neuen Ansätzen zu entschlüsseln
galt. Die Entwicklung der Freimaurerei wurde von den Mitgliedern des Bundes
zwar immer primär als Gestaltungsaufgabe verstanden, aber hin zu Reflexion und Diskurs
ist es stets nur ein kleiner Schritt gewesen. Gewiss wollten die Brüder – genauer gesagt: die
konzeptionell tonangebenden und administrativ führenden unter ihnen – vor allem das Leben
ihrer Logen gestalten, Großlogen bilden sowie neue rituelle Erlebnisformen und Grade
in die Freimaurerei einführen. Doch in Verbindung damit setzte sehr früh eine intensive
Reflexion über Ideenwelt, Rituale, Stilprinzipien und Organisationsstrukturen der Freimaurerei
ein. Kurz: Die Entwicklung der Freimaurerei und die Entwicklung des Freimaurerdiskurses
haben sich ständig begleitet. Diskurse reflektierten die Wirklichkeiten der Freimaurerei,
aber auch die Auffassungen der Autoren und wirkten auf den Gang der freimaurerischen
Realität zurück.
1. Zur Diskursanalyse und ihrer Anwendung auf Freimaurerei
Soziale Einrichtungen aller Art wie Parteien, Kirchen, ethische Assoziationen wie die Freimaurerei,
aber auch Prozesse und Ereignisse wie politische Konflikte, Zuwanderung aus
dem Ausland, Wirtschaftskrisen, Fußballweltmeisterschaften begegnen dem Betrachter stets
in zwei Erscheinungsformen der Realität.
Auf der einen Seite steht die Welt der Fakten, die mit geeigneten analytischen Methoden
transparent gemacht und erforscht werden können. Auf der anderen Seite stehen die
Gedanken der Menschen über Fakten, die Perzeptionen davon, die geschriebenen Texte
und Reden darüber, kurz: die Diskurse.
Diskurse entstehen, wenn Menschen im Reden, Schreiben und Bedeuten durch Texte
und Zeichen miteinander kommunizieren, wenn sie sich etwas mitteilen wollen, was für sie
Bedeutung hat, wenn sie etwas zu begründen, zu rechtfertigen oder zu verteidigen haben,
wenn sie Wissen weitergeben wollen, das sie für wahr und wichtig halten.
Diskurse sind gleichermaßen Bestandteile semantischer, kultureller und sozialer Prozesse.
1 Sie finden in bestimmten Rahmenkonstellationen statt und sind damit an die institutionellen
Strukturen der Gesellschaft gebunden. Doch gleichzeitig entfalten Diskurse
eine beträchtliche Eigendynamik und erweisen sich als eine Macht, die »aus puren Worten
1 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Jäger, Siegfried: Bemerkungen zur Durchführung von Diskursanlanalysen,
http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, download 15.6.2006; derselbe: Die Wirklichkeit
ist diskursiv, http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, download 15.6.2006; Theorien
der Medienkommunikation. 3: Diskurstheorien, in: MedienWiki, file://C:/Windows/Temp/Theorien
der Diskurstheorien.htm, Download 26.7.2006.
153
neue oder veränderte Welten schaffen« kann2, oder – mit einer Beschreibung Michel Foucaults3
– »Diskurse sind Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen
sie sprechen«. Norman Fairclough hat diese Eigenschaft von Diskursen folgendermaßen
beschrieben:
»Discourse is socially constitutive. Discourse contributes to the constitution of all
those dimensions of social structure which directly or indirectly shape and constrain
it: its own norms and conventions, as well as the relations, identities and institutions
which lie behind them. Discourse is a practice not just of representing
the world, but of signifying the world, constituting and constructing the world in
meaning.«4
Wenn Diskurse eng mit dem zusammenhängen, wovon sie sprechen, so bedeutet dies allerdings
nicht, dass sie Realitäten struktur- und maßstabsgetreu widerspiegeln. Gerade in den
Diskursen, die um die Freimaurerei und in der Freimaurerei geführt werden – zusammenfassend:
im »Freimaurerdiskurs« –, bemerken wir immer wieder Übertreibungen, die von den
Realitäten abdriften:
Von außen – etwa im »Verschwörungsdiskurs« – erscheint die Freimaurerei im Vergrößerungsglas
ihrer Gegner als eine dämonische Macht, als allgegenwärtiger Drahtzieher
der Weltverschwörung, als Anführer immer wieder wechselnder »Koalitionen
des Bösen«, als Verderber christlicher Religion und als Hauptquelle weltanschaulicher
Irrtümer.
Im Inneren des Bundes vergrößern sich die Freimaurer gern selbst zum Inbegriff der
Humanität, zum Heilmittel gegen allumfassende Sinnkrisen, zu einer segensreich wirkenden
Institution, die – so wird oft gesagt und geschrieben – »schleunigst erfunden werden
müsste, wen es sie nicht gäbe«. Aber auch zum Negativen hin wird in freimaurerischer
Selbstdarstellung übertrieben: Anflüge von tiefem Pessimismus (manchmal sogar von
unverkennbarem Selbsthass) lassen die Freimaurerei dann als Sanierungsfall oder gar als
Auslaufmodell erscheinen, dessen Zustand jedenfalls ebenso unverzügliche wie nachhaltige
Rettungsmaßnahmen erforderlich macht.
2. Strukturen des Freimaurerdiskurses
Um den Strukturen des gegenwärtigen Freimaurerdiskurses ausführlicher nachgehen zu können,
möchte ich – den Ansätzen der Diskurstheorie folgend – etappenweise vorgehen und
eine Reihe von Unterscheidungen vornehmen.
2 Vgl. Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion
von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung (Reihe: Erfahrung
– Wissen – Imagination Band 10, hrsg. von Soeffner, H.-G./Knoblauch, H./Reichertz, J.), Konstanz
2005.
3 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1988, S. 74.
4 Fairclough; Norman: Discourse and Social Change, Cambridge 1992, S. 64.
154
Grundsätzlich sind zunächst nach dem Ort der Diskurse drei Gruppen zu unterscheiden:
1. Diskurse, die zwischen der Freimaurerei und der sie umgebenden Gesellschaft stattfinden;
2. Diskurse, die außerhalb der Freimaurerei, in der Öffentlichkeit oder Teilen davon wie
Kirchen oder politischen Gruppen in Bezug auf die Freimaurerei geführt werden, und
3. Diskurse, die sich innerhalb der Freimaurerei abspielen und bei denen dann immer wieder
die im Titel dieses Beitrags genannten Fragen im Vordergrund stehen: Was ist, was will,
was soll die Freimaurerei?
Ich werde den internen Diskursen der Freimaurer nachgehen, die beiden anderen Gruppen,
insbesondere den Diskurs zwischen der Freimaurerei und ihrer Umwelt, aber immer mit im
Auge behalten. Denn ein »Innen« und »Außen« in Bezug auf die Freimaurerei ist für Vergangenheit
und Gegenwart des Bundes nicht voneinander zu scheiden.
2.1 Zur Dialektik von Innen- und Außensichten der Freimaurerei
Seit dem Beginn der Geschichte des Freimaurerbundes als neuzeitlicher Assoziation ist das
Bild der Freimaurerei in der Öffentlichkeit nicht vom inneren Diskurs der Freimaurer zu
trennen. Was immer in der Öffentlichkeit über den Bund gesagt wurde und wird, es war und
ist – selbst noch im Zerrspiegel der Verschwörungs«theorien« – nicht unabhängig von den
Selbstdarstellungen des Bundes und seiner Mitglieder. Sein, sich selber sehen und gesehen
werden gehörten stets zusammen.
Selbstbilder und Fremdbilder der Freimaurerei, Innen- und Außensichten des Bundes
bedingen sich gegenseitig und bilden trotz aller Widersprüche einen Gesamtkomplex, von
dem jede das Verhältnis von Freimaurerei und Öffentlichkeit thematisierende Analyse auszugehen
hat.
Dieser Dialektik von Selbstbildern und Fremdbildern liegen drei von Anfang an gegebene
Grundbefindlichkeiten der Freimaurerei zugrunde, deren Auswirkungen gleichfalls
analytischer Aufarbeitung bedürfen:
Da ist zunächst die inhaltliche und formale Unbestimmtheit der Freimaurerei. Gewiss,
der Bund hat einige zentrale Merkmale, die ihn als Freimaurerei konstituieren und unterscheidbar
machen. Dennoch existierte von Anfang eine zur Auffüllung einladende, gleichsam
»fordernde« Leere (Michael Voges) der Freimaurerei im Hinblick auf die Ausgestaltung
der Rituale, die organisatorischen Strukturen des Bundes, seine Gradhierarchien sowie seine
konkreten Aufgaben und Zwecke. Dies gilt in einer durch harmonisierende Formeln und
Interventionen freimaurerischer Leitungsorgane freilich oft überdeckten Weise auch noch
für die Freimaurerei der Gegenwart.
Um es mit einem Wort von Monika Neugebauer-Wölk zu sagen: »Freimaurerei war
immer ein Raum, in dem vieles möglich war.«5 In diesem Raum entwickelten sich mannigfaltige
Spielarten des Bundes, teils ethisch-moralischer, teils esoterischer, teils christlicher
Orientierung, teils mit einfachen, teils mit weit aufgefächerten Gradstrukturen. Reformen
standen immer wieder auf der Tagesordnung, und im Grunde genommen befindet sich die
Freimaurerei bis heute auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.
5 Neugebauer-Wölk, Monika: »Einführung« zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800, a.a.O., S. XVIII.
155
Da ist zweitens der von Anfang an in Verbergen und Mitteilen, Verschweigen und Ausplaudern
gespaltene halböffentliche Charakter der Freimaurerei.6 Trotz ihres Rückzugs in
die Sphäre des Geheimnisvollen fand Freimaurerei stets unter Beteiligung der Öffentlichkeit
statt.
Hinweise auf Logentreffen in der Londoner Presse, Theaterbesuche und Prozessionen
in maurerischer Bekleidung, Publikationen in großer Zahl, Abbildungen prominenter Mitglieder
in masonischem Outfit waren schon bald nach Gründung der Londoner Großloge
an der Tagesordnung, und im Grunde genommen ist dies ja auch bis heute so geblieben.
Allerdings: Es sind nicht mehr deutsche Kaiser und amerikanische Präsidenten, deren Porträts
die Öffentlichkeit als Ausdruck korporativen Stolzes erreichen sollen, sondern beispielsweise
Abbildungen hoher Würdenträger der VGLvD in Schwarz mit Schurz in der
Zeitschrift »Focus« oder einer Gruppe gleichfalls schurzbekleideter Berliner Freimaurer mit
einem Anflug von »Wir sind die glorreichen Fünf« im Berliner Tagesspiegel.
Auch freimaurerische Prozessionen mit voller Bekleidung und hohem Hut sind nicht
aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sie finden zwar nicht mehr in natura statt, doch
sie sind in Fernsehfilmen zu sehen, wie etwa in der von Freimaurern mitgestalteten ARDProduktion
»Tempel, Logen, Rituale«, die die Brüder wiederum in Schwarz, wiederum mit
Schurz und hohem Hut beim Einzug in die Krypta des Völkerschlachtdenkmals zeigt.
Schauen wir einen Augenblick von einem Ort außerhalb der Freimaurerei auf dieses Bild:
Freimaurer beim feierlich-pathetischen Einzug in ein Monument der Geschichte. Da stellt
sich dann doch die Frage, ob für so manche Verschwörungsprojektion, die von den Freimaurern
beklagt wird, wirklich immer nur die verantwortlich sind, die den Freimaurern den Hang
zur Verschwörung unterstellen, oder ob nicht auch diejenigen zur Zählebigkeit alter Mythen
beitragen, die vorsätzlich oder leichtfertig Stoff und Ankerplätze dafür zur Verfügung stellen.
Zu den optisch wahrnehmbaren Demonstrationen der Freimaurerei kam seit ihrer Begründung
als moderner Assoziation ein reichhaltiges Schrifttum hinzu. Um dem »Geheimnis
der Freimaurerei« selbst auf die Spur zu kommen, haben die Freimaurer immer
außerordentlich viel publiziert, gedruckte Texte waren ein wesentliches Medium ihrer
Selbstverständigung, und die Öffentlichkeit war meist als Leser dabei.
Im April 1785 – dies und das Folgende nach Michael Voges7 – richtete die angesehene
Jenaische Allgemeine Litteratur Zeitung eine eigene Sparte für die Besprechung freimaurerischer
Schriften ein. Die Herausgeber begründeten ihre Entscheidung damit, dass
»die innern Angelegenheiten des ehrwürdigen Ordens der Freymaurer seit einiger
Zeit eine ganz besondere Publicität bekommen haben, und mehr als eine Ihrer öffentlichen
Schriften … das Publikum … gleichsam auffordern, Theil an ihren Fehden
über das Wesentliche ihres Ordens zu nehmen«.
Schon ein Jahr zuvor hatte die Berliner Allgemeine Deutsche Bibliothek ihr bisheriges
Schweigen in freimaurerischen Dingen gebrochen und zwar mit einer deutlich kritischen
Tendenz:
6 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte
am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts,
Tübingen 1987, S. 82.
7 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 126.
156
»Wir haben uns bisher enthalten, eigentliche Freymaurerschriften in unserer Bibliothek
anzuführen … Aber es fängt doch an nöthig zu werden, von einigen dieser
Schriften zu reden, besonders von solchen, worin mit unerhörter Unverschämtheit
Unsinn und Aberglauben unter dem Scheine von großen Geheimnissen fortgepflanzt,
und noch dazu Katholicismus unter einer verdeckten … geheimnißvollen
Sprache empfohlen wird.«
Zu den Essays und Freimaurerreden, zu den Texten der Lessing, Knigge, Herder und Fichte
kamen bald die belletristischen Schriften hinzu, die Freimaurer- und Geheimbundromane,
die Außenstehende an der emotionalen Wirkung der Rituale und an den mit den
höheren Graden verbundenen subjektiven Selbstwertsteigerungen der Brüder teilnehmen
ließen.
Ein Beispiel, das ich wiederum Michael Voges verdanke8:
1782 veröffentlichte August Siegfried Friedrich von Goué einen Freimaurerroman mit dem
Titel »Ueber das Ganze der Maurerey« und dem bezeichnenden Untertitel »Zum Ersatz aller
bisher von Maurern und Profanen herausgegebenen unnützen Schriften«.
Einer der Helden des Romans, Stralenberg, schreibt an einen Freund:
»Aber die Aufnahme ist so schön, so feierlich, daß ich drey Tage gebrauchte mich in
meine vorige Fassung zurück zu setzen … Die Maurerey muß gut seyn, und erhabene
Vorwürfe haben, das beweiset die Meister=Aufnahme.«
Sein Freund Fürstenberg sekundiert nach der Einweihung in einen Hochgrad:
»Als ich mit dem Ringe zurück kam, mein lieber Stralenberg, o! wie feierten mich die
hiesigen Brüder der untern Stufen. Sie tragen eine wahre Verehrung für diesen Ring,
und wenn mich der Kayser in den Grafen-Stand erhoben hätte, so wäre ich dadurch
das in ihren Augen nicht geworden, wozu ich in Frankfurt gestiegen bin.«
Eine besondere Kategorie bildeten und bilden die »Verräterschriften«, oder besser vielleicht
»Enthüllungsschriften« ehemaliger Freimaurer von Samuel Pritchard über Leo Taxil bis hin zu
Burkhardt Gorissen. Diese Schriften versuchen nach dem Motto »Ich bin dabei gewesen, und
ich weiß, wovon ich rede« den Anschein authentischer Erfahrung zu vermitteln, und wenn
sich heutzutage kritische, skeptische oder amüsierte Beobachter der Freimaurerei im »Focus«
oder in der FAZ auf Gorissens Buch berufen, so folgen sie einem ebenso alten wie naheliegenden
anti-masonischen Enthüllungsschema.
Von welcher Seite man es betrachtet: Die Freimaurerei war nie ein Geheimbund im strikten
Sinne, aber sie war auch nie lediglich ein schlicht geselliger Verein oder ein Service-Club
vom Lions-Rotary-Typ. Sie war immer eine Assoziation zwischen Geheimbund und geselliger
Institution. Das bedeutete, dass sie im Inneren auf einer breiten Skala unterschiedlicher Gewichte
von Geheimnis und Geselligkeit gestaltet werden konnte und auf der gleichen Skala
8 Ebenda, S. 88f.
157
auch von außen eingeschätzt wurde. Für die Freimaurerei galt nicht nur in Bezug auf ihre
rituellen, konzeptionellen und organisatorischen Inhalte, sondern auch im Hinblick auf die
relativen Gewichte von Geheimnis und Öffentlichkeit – sei es bei der inneren Gestaltung, sei
es bei der Betrachtung von außen – immer ein Element von »Wie es Euch gefällt«.
Und dennoch gab und gibt es – dies ist mein dritter Gesichtspunkt in diesem Kontext
– trotz Präsenz in der Öffentlichkeit und trotz aller Inkonsequenz bei seiner Handhabung
stets das sowohl von den Freimaurern selbst als auch von Außenstehenden – Freunden wie
Gegnern – reklamierte und proklamierte freimaurerische Geheimnis.
Weder lassen die Freimaurer davon und flüchten notfalls in Formeln wie die Freimaurerei
hat kein Geheimnis, die Freimaurerei ist ein Geheimnis, noch wollen die Gegner der
Freimaurerei darauf verzichten, die den Freimaurern in ihren extremen Verschwörungsvarianten
vorhalten, dass es gerade die vermeintliche Offenheit der Freimaurerei ist, die ihren
Charakter als geheime Verschwörung verbergen soll, ihn aber gerade hierdurch – wie die
Verschwörungs«theoretiker« immer wieder zu wissen meinen – erst recht klar erkennbar
macht.
Das maurerische Geheimnis ist vor allem das Geheimnis der verschwiegenen Rituale, und
nicht nur die positiven Selbstzuschreibungen der Freimaurerei, auch alle Formen von Kritik,
Ablehnung und Verurteilung machen sich am Geheimnis der Rituale fest:
• Für die Kirchen verhüllen sich in den Ritualen Elemente einer alternativen Religiosität,
wenn nicht gar einer anderen Religion, zumindest aber der Ungeist des religiösen Relativismus.
• Für die Vertreter der Verschwörungsmythen bietet der geheime Raum des Rituals den Rahmen
für das Aushecken mannigfaltiger Verbrechen und Anschläge gegen die gesellschaftliche
Ordnung, gegen Volk und Staat.
• Für den Volksaberglauben konstituiert das Ritual die besser strikt zu meidende Welt des
Makaber-Gruseligen, in der vielleicht gar Satanisches im Spiele ist.
• In der Sicht intellektueller Kritiker kaschieren Ritual und Geheimnis Ansprüche auf
Selbsterhöhung
und persönliches symbolisches Kapital, wenn sie nicht gar als Ausdruck
des Lächerlichen gelten, in vielen Variationen der Charakterisierung durch den Philosophen
Ernst Bloch, Freimaurerei sei nichts als eine »wahnhaft gesittete Mummerei«.9
Auf dem skizzierten Hintergrund
• der inhaltlichen Unbestimmtheit der Freimaurerei,
• ihres halböffentlichen Charakters und
• des dennoch mit ihr verbundenen Mythos vom Geheimnis
vollzog sich nun nicht nur die Geschichte der Freimaurerei und ihrer Verurteilungen, sondern
– gleichsam als Ausdruck eines historischen Pingpong-Spiels – auch die Geschichte der
Erwiderungen und Apologien, mit der die Freimaurer auf Angriffe und Verurteilungen reagierten.
9 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Zweiter Band, S. 838.
158
1770 fasste eine zunächst anonym erschienene, wiederholt aufgelegte kleine Schrift von
Johann August von Starck unter dem Titel »Apologie des Ordens der Frey Maurer« die
Antworten der Freimaurerei auf folgende – im Prinzip bis heute unverändert gebliebene –
Hauptpunkte der Kritik zusammen:10
• Das Geheimnis der Freimaurer als solches widerspräche der Aufklärung, denn was nützlich
und gut sei, könne offen und klar dargelegt werden,
• die Freimaurerei bilde einen Staat im Staate (statum in statu),
• der Eid der Maurer sei schrecklich, er schränke durch die angedrohten, unmenschlichen
Sanktionen die natürliche Freiheit des Menschen ein,
• das Abfordern eines Eides sei zudem ein Monopol der Obrigkeit, und die Freimaurerei verbreite
unter seinem Schutz eine gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber Nation und Religion,
• schließlich sei der Orden der Freimaurer ohne wahren Nutzen und daher überflüssig, es
sei denn, er betreibe unerlaubte Zusammenkünfte, die einen Herd für Verschwörungen
bilden könnten.
Doch auch dies gilt bis heute: Die Freimaurer litten nicht nur an der sie umgebenden
Mythologie, der faszinierenden Aura des Geheimen, sie profitierten auch davon (Michael
Voges). Denn die Mythen hielten die Freimaurerei im Gespräch, führten ihnen – bis hin zu
den Dan-Brown-Fans – viele Neugierige zu und veranlassten die Maurer selbst, immer wieder
darüber nachzudenken, ob hinter ihrem Orden nicht doch mehr stecke, ob das Geheimnis
nicht doch einen anderen Inhalt habe als bisher in seiner schlichten englischen Ausformung
zu erkennen war.
Im Laufe der Zeit wurde das Geflecht der antimasonischen Mythen immer dichter.
Doch immer wieder waren es Auffassungen, die aus der Freimaurerei selbst hervorgingen,
die den Stoff dazu lieferten:
Wenn beispielsweise Herder in seiner Korrespondenz mit Schröder an der Wende zum
19. Jahrhundert die beiden Grundvoraussetzungen einer von ihm mitgetragenen Reform
der Freimaurerei formuliert – nämlich Wiederherstellung des »alten Rituals in seiner reinsten
Gestalt« und eine angemessene rituelle Praxis – und seinen Brief dann mit den Worten
schließt
»Die geheimen Gesellschaften sind bisher ein fressendes Gift, Höhlen des Betrugs,
der Halbwisserei und … eines despotischen, kleingeistigen Egoismus gewesen! Oh,
daß eine (von ihnen – nämlich die alte englische Form, H.-H.H.) in allem Glanz der
Redlichkeit und Wahrheit Beispiel und Vorbild werde«,
so argumentiert er gegen die damals aktuellen Formen der Freimaurerei nicht anders als viele
antimasonische Schriften.11
Die eigenen Mythen der Freimaurer sollten sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten
im öffentlichen Raum mehr und mehr verselbstständigen und schließlich die Freimaurerei
10 Apologie des Ordens der Frey Maurer, von dem Bruder *** (Johann August von Starck), Philadelphia
1778, S. 30–83.
11 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 209. Herder-Zitat ebenda.
159
von außen überholen: »Das Geheimnis eröffnete eine Spirale der Spekulation und Verdächtigung,
die tendenziell ohne Ende war.«12
Werfen wir zum Schluss dieses Abschnitts noch einmal einen Blick auf die verschiedenen
Freimaurer-Images oder Außenbewertungen der Freimaurerei, mit denen wir es heutzutage
in Deutschland zu tun haben, und auf die die deutschen Freimaurer reagieren
sollten, wenn auch auf verschiedene, der jeweiligen Herausforderung angemessene Weise.
Vielleicht lassen sich für diese Images acht wichtige Vertreter-Gruppen unterscheiden:
• Da sind erstens die Anhänger alter und neuer Verschwörungsmythen, die das »Objekt ihrer
Begierde« – die bösen Freimaurer und ihre Bundesgenossen – keinesfalls verlieren wollen
und mit denen man weder diskutieren kann noch soll.
• Da sind zweitens die nicht wenigen Menschen, die auf irgendeine Weise immer noch
Denkvorstellungen und Befürchtungen des Volksaberglaubens anhängen, woraus dann
eine diffuse Abwehrhaltung und Berührungsangst gegenüber der Freimaurerei resultiert:
Ein Wohltätigkeitsbuffet des Rotary-Clubs? »Prächtig, da gehen wir hin.« Eine ebenso
wohltätige Reibekuchenbude der Freimaurer? »Nein danke, lieber nicht, man kann
schließlich nicht wissen, was die da alles hineinbacken.« Da gilt es für die Freimaurer nur,
mit schlichter, bürgerlicher Normalität zu überzeugen.
• Da sind drittens die Kirchen, die – wie die katholische – entweder wissen, aber nicht mögen,
wie die Freimaurerei es mit der Religion hält, oder die es – wie die evangelische – bei
allem Wohlwollen doch noch etwas genauer wissen will: Hier sollte die deutsche Freimaurerei
auf redlich-seriöse Weise gesprächsbereit sein, zuvor allerdings das Verhältnis zwischen
Freimaurerei und Religion in ihren eigenen Kolonnen sorgfältiger klären.
• Da ist viertens die Wissenschaft, die sich mehr und mehr und mehr mit der Freimaurerei
beschäftigt und die Unterstützung verdient, wie und wo immer Freimaurer dazu in der
Lage sind. Die externe Freimaurerforschung ist das Gewissen der Freimaurerei, weil sie
hilft, Eigenverdunkelungen zu überwinden und sich selbst besser zu erkennen.
• Da sind fünftens die Vertreter der Politik, des Staates und der Kommunen, die der Freimaurerei
meist wohlgesonnen sind und deren redliche und offene Gesprächspartner
Großlogen und Logen zu sein haben.
• Da sind sechstens die Medien, in denen angemessen vertreten zu sein, Freimaurer sich auf
seriöse Weise bemühen sollten, wobei im Hinblick auf die Welt der bunten und bewegten
Bilder Zurückhaltung am Platze ist. Arkandisziplin heute sollte nicht zuletzt bedeuten,
sich in der Öffentlichkeit nicht lächerlich zu machen.
• Da ist siebtens die intellektuelle, die kulturelle Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit gesellschaftlich
relevanter Diskurse. Hier sollten sich die Freimaurer um gehaltvolle Präsenz
bemühen, denn wenn sie etwas zu sagen haben, dann sollten sie es auch sagen.
• Schließlich und achtens ist da so etwas wie die Gesellschaft im Allgemeinen, die u.a. aus
den Menschen zusammengesetzt ist, die in die Logen kommen und fragen, wer die Freimaurer
sind und was sie zu sagen haben, und die vielleicht in den Logen als zukünftige
Brüder mittun wollen.
12 Ebenda, S. 129.
160
Nicht zuletzt in der Kommunikation mit diesen Menschen käme es darauf an, sich der eigenen
maurerischen Identitäten klarer bewusst zu werden und ein deutliches Bild davon zu
vermitteln, was Freimaurerei ist und was sie nicht ist. Gerade die »Suchenden« müssen rechtzeitig
erkennen können, dass es unterschiedliche Formen und Verständnisse von Freimaurerei
gibt, die der Redlichkeit halber nicht verwischt werden sollten und die nicht erst nach
der Aufnahme sichtbar werden dürfen.
2.2 Freimaurerei und Internet
Keine Analyse der Gegenwartsfreimaurerei und der in ihr und um sie herum geführten
Diskurse kann auf eine Beschäftigung mit dem Internet verzichten. Das Internet hat die
Welt der Freimaurerei zutiefst verändert, wenn auch Zweifel erlaubt sein mögen, ob Brüder,
Logen und Großlogen in ihrer Gesamtheit dies bereits hinreichend wahrgenommen
haben.
Sechs Gesichtspunkte scheinen mir von besonderer Bedeutung:
1. Durch das Internet kam es zu einer verstärkten, förmlich explosionsartig gesteigerten Präsenz
der Freimaurerei in der Öffentlichkeit über die Homepages von Logen und Großlogen,
der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, des »Netzwerks Freimaurerforschung«
und so weiter und so fort. Diese umfangreiche und ständig weiter zunehmende Internetpräsenz
eröffnet mannigfaltige, völlig neue Kommunikationsmöglichkeiten zwischen
Freimaurerei und Öffentlichkeit.
2. Durch das Internet entwickelte sich ein neuer Mechanismus der Mitgliederrekrutierung.
Alte Mechanismen der Ansprache von Kandidaten für eine zukünftige Logenmitgliedschaft
über Verwandte und Bekannte, oder auch das Ausfindigmachen von Interessenten
durch traditionelle »Schleppnetze« wie Annoncen in der Tagespresse und öffentliche
Veranstaltungen sind vom »Superschleppnetz Internet« wohl endgültig abgelöst worden.
Logenberichte weisen inzwischen auf eine Internet-Rekrutierungsquote von bis zu 90
Prozent hin. Dies kann zu Mengenwachstum, Qualitätssteigerung und Verjüngung der
Mitgliederstruktur der Logen beitragen – allerdings nur dann, wenn es gelingt, die zweifellos
auch angezogenen obskuren Interessenten rechtzeitig als solche zu erkennen und als
Kandidaten auszuscheiden.
3. Das Internet eröffnet neue Möglichkeiten für die Kommunikation unter Brüdern – national
und weltweit – und erhöht auf diese Weise die Dichte der intern geführten Freimaurerdiskurse.
Es eröffnet freilich auch neue Möglichkeiten, sich in der Anonymität des
Netzes unbrüderlich zu beschimpfen und lässt darüber nachdenken, wie innerhalb der
Freimaurerei Stil und Ethik der Führung von Diskursen – hierzu weiter unten mehr – verbessert
werden können.
4. Durch das Internet sind die Informationen über die Freimaurerei ins völlig Unüberschaubare
angewachsen, und zwar durch Texte sowohl von Freimaurern und Nichtfreimaurern
als auch von ehemaligen Freimaurern, womit ein neuer Typus von »Verräter-
Publikationen« entstanden ist. Die Internet-Darstellungen zur Freimaurerei beinhalten
seriöse Informationen, sie transportieren aber auch masonisches Halbwissen sowie alte
und neue Fantasie- und Verschwörungswelten, auf die die Freimaurer und ihre Institutionen
angemessen zu reagieren haben.
161
5. Durch das Internet ist die Freimaurerei auf noch nie da gewesene Weise der Macht der
bunten
und bewegten Bilder ausgesetzt. Freimaurerfilme im You-Tube-Format – vor allem
solche antimasonischen Inhalts – geistern durch das Netz und ziehen Betrachter an. Ist
das schon problematisch genug, so wird es nur selten besser, wenn Freimaurer mit Filmen
darauf zu reagieren versuchen. Film ist ein »ritualsüchtiges« Medium, das mit großer Vorsicht
gehandhabt werden sollte und das selten so gut gelingt wie das großartige Gespräch
mit dem »maurerischen Urgestein« Rolf Appel. Ich wiederhole mit Nachdruck: Sich in
und vor der Öffentlichkeit nicht zu blamieren, – das vor allem ist heutzutage das Gebot
freimaurerischer Arkandisziplin.
6. Doch ob mit oder ohne Bilder: Nicht zuletzt bietet das Internet in einem Ausmaß ohne
jede historische Präzedenz Informationsmöglichkeiten über die freimaurerischen Rituale.
Mit wenig Zeitaufwand für Recherchen lassen sich die Texte vieler Rituale unterschiedlicher
Systeme und Grade ausfindig machen und zwecks Speicherung auf der Festplatte
des eigenen Computers »downloaden«.
Insbesondere:
Wenn Außenstehende sich detailliert über Rituale informieren können und wenn sie mit
Freimaurern darüber kommunizieren wollen, dann benötigen die freimaurerischen Gesprächspartner
nicht nur mehr Wissen über Inhalt und Funktion von Ritualen in Freimaurerei,
Kultur und Gesellschaft. Erforderlich ist auch eine neue Schwerpunktsetzung im Umgang
mit dem Ritual: Anstelle einer Begriffswelt, die um »Arkandisziplin« und »Geheimnis«
angesiedelt ist, hätte eine Begriffswelt zu treten, die um Begrifflichkeiten wie Privatheit, Intimität,
Diskretion und Schutz des persönlichen Vertrauens kreist.
Insgesamt hat das Internet die Ausgangslage für den Diskurs mit der Öffentlichkeit gründlich
verändert. Einerseits muss mit einem Aufblühen alter und neuer Verschwörungs- und
Fantasy-Welten gerechnet werden. Andererseits kann – zumindest partiell – von einer besser
informierten Öffentlichkeit ausgegangen werden, und die Kommunikation zwischen innen
und außen gewinnt an Niveau. Dies setzt allerdings, wenn es Gewinn bringen soll, in jedem
Fall den besser informierten Freimaurer voraus.
2.3 Der Freimaurerdiskurs der Kirchen
Ohne Zweifel hat sich das Interesse der Kirchen an der Freimaurerei in der jüngsten Vergangenheit
belebt. Dies gilt auch für die katholische Kirche, die ihre Positionen gegenüber der
Freimaurerei seit den 80er Jahren zwar kaum revidiert hat13, aber doch daran interessiert ist,
insbesondere in ihren Akademien mit Vertretern des Freimaurerbundes ins Gespräch zukommen.
Für das Interesse der evangelischen Kirche sprechen vor allem die Aktivitäten des
Zentrums für Weltanschauungsfragen (ZWF) in Berlin, dessen Referent für Sekten (!), Mathias
Pöhlmann, zwei auch in Freimaurerkreisen geschätzte Schriften veröffentlicht hat, in de-
13 Ausführlicher dazu Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei in Deutschland: Ein Überblick im Kontext
von Geschichte, internationalen Entwicklungen und freimaurerischen Konzeptionen, in diesem
Band, S. 12–50.
162
nen er sich darum bemüht, der Freimaurerei gerecht zu werden.14 Im Dezember 2006 führte
das ZWF einen »Studientag« zur Freimaurerei durch, an dem u.a. Mathias Pöhlmann und
ich selbst als Referenten teilnahmen. In der Zeitschrift des Zentrums wurden die Beiträge
publiziert.15 Die Erfahrungen der Diskurse zeigen, wie sehr es erforderlich ist, das Verhältnis
der Freimaurerei zur Religion aus der Sicht der deutschen Logen deutlich zu machen und
die dabei zwischen den deutschen Großlogen bestehenden Unterschiede nicht auszublenden.
Ausführlicher bin ich hierauf im nächsten Beitrag dieses Bandes eingegangen, der den
Religionsdiskurs der Freimaurer in Deutschland aus historischer und gegenwärtiger Perspektive
behandelt.16
2.4 Der Freimaurerdiskurs der Wissenschaft und seine Bedeutung für
das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Gesellschaft
Ursprünglich waren es meist Freimaurer gewesen, die sich der freimaurerischen Forschung
verschrieben hatten und zwar in allen Ländern, in denen sich der Bund in seinen unterschiedlichen
Formen entfalten konnte. Auf den weiteren internationalen Kontext kann hier
allerdings nicht eingegangen werden. Eine kommentierte Übersicht dazu hat Ludwig Hammermayer
gegeben17, und hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf die Beiträge zur 2. Internationalen
Konferenz der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Freimaurerei
(Innsbruck, 19.–21 Mai 1995) zum Thema »Freimaurerische Historiographie im 19.
und 20. Jahrhundert«.18 Für die Geschichte der freimaurerischen Forschung in Deutschland
ist eine ganze Anzahl von Namen zu nennen, die ihren Rang auch aus heutiger Sicht bewahren
konnten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hingewiesen auf Georg Kloß, Christian
Carl von Nettelbladt, Josef Findel, Adolf Schiffmann, Ludwig Keller, Wilhelm Begemann,
August Wolfstieg, Friedrich Kneisner, Ferdinand Runkel, Eugen Lennhoff, Oskar Posner
und Adolf Pauls. Diese Brüder waren aber nicht nur Forscher, sie kamen aus unterschiedlichen
freimaurerischen Systemen, und sie hatten auch bestimmte Einstellungen dazu, was
das »Wesen« der Freimaurerei sei und wie man sie zu gestalten habe. So blieb es nicht aus,
dass ihre Auffassungen des Öfteren voneinander abwichen und es zu gegenseitigen Vorwürfen
der Einseitigkeit, der Voreingenommenheit, ja der Unwissenschaftlichkeit kam. Modern
gesagt, die Autoren stellten sich wechselseitig unter »Ideologieverdacht«. Ein geradezu klassisches
Beispiel war der Konflikt um Grundpositionen freimaurerischer Geschichtsdeutung
14 Pöhlmann, Mathias: Verschwiegene Männer. Freimaurer in Deutschland, EZWTexte 182, Berlin 2008;
ders.: Freimaurer. Wissen was stimmt, Freiburg/Basel/Wien 2008.
15 Pöhlmann, Mathias/Höhmann, Hans-Hermann: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Freimaurerei
in Deutschland – von außen und innen betrachtet, in: Materialdienst. Zeitschrift für Religions- und
Weltanschauungsfragen, 70. Jg., H. 6/2007, S. 205–222.
16 Höhmann, Hans-Hermann: »Von Gott und der Religion«. Zum Religionsdiskurs in der deutschen Freimaurerei,
in diesem Band, S. 179–197.
17 Hammermayer, Ludwig: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften
im 18. Jahrhundert, in: Éva H. Balázs, Ludwig Hammermayer, Hans Wagner und Jerzy Wojtowicz: Beförderer
der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, S. 17ff.
18 Helmut Reinalter (Hrsg.): Freimaurerische Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsbilanz
– Aspekte – Problemschwerpunkte, Bayreuth 1996.
163
zwischen Keller und Begemann, in den auch Wolfstieg eingriff und den Monika Neugebauer-
Wölk im Kontext ihres Beitrags zur Hallenser QC-Arbeitstagung behandelt hat.19
Nun ist die Beeinflussung von Forschungsresultaten durch die »kognitiven Modelle«
der Wissenschaftler ein allgemeines Phänomen der Forschung, insbesondere in den Geistesund
Sozialwissenschaften, wo individuelle und gruppenspezifische Bindungen an Denkschulen
und Paradigmensysteme eher die Regel als die Ausnahme sind. Auch Freimaurerforscher,
die nicht dem Bund angehören, können miteinander in den wissenschaftlichen
Streit geraten, wie in jüngerer Zeit beispielsweise die Auseinandersetzung um die Thesen des
amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson zur Mitgliedschaft Goethes im Freimaurerund
im Illuminatenbund gezeigt hat.20
Für Forscher, die dem Bund angehören, besteht jedoch eine spezifische Versuchung,
Analyse und Wertung zu vermischen und subjektiv Normatives (»So sehe ich die Freimaurerei
«) als objektive Beschreibung der Wirklichkeit (»So ist die Freimaurerei«) auszugeben.
Dieses »Ineinander-verwoben-Sein« analytischer und normativer Sichtweisen bei
Darstellungen durch Freimaurer ist der externen, d.h. der von Nichtfreimaurern betriebenen
Forschung natürlich nicht verborgen geblieben. Die externen Forscherinnen und
Forscher erkennen zwar an, dass der internen freimaurerischen Forschung durchaus wissenschaftlicher
Wert zukommt. Die Forschungsergebnisse gelten aber oft als so sehr von
den freimaurerischen Standorten der Autoren beeinflusst, als dass sie generell als verlässlich
eingeschätzt werden könnten. (Dieselbe Standortgebundenheit gilt allerdings meist auch
für das freimaurerkritische Schrifttum, selbst, wenn es sich wissenschaftlich ausgibt.)
Als sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr externe Forscher, vor allem
Historiker,
mit der Erforschung der Freimaurerei beschäftigten und/oder sie in weitere
Kontexte ihrer Untersuchungen rückten, bekam die freimaurerische Forschung einen neuen
Auftrieb. Ein wesentlicher Anstoß kam von Reinhart Koselleck, dem in Bielefeld lehrenden
Neuhistoriker, der es in seiner, zuerst 1959 erschienenen bahnbrechenden Studie »Kritik
und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« unternommen hatte, die
Freimaurerlogen in den bürgerlichen Emanzipationsprozess des 18. Jahrhunderts einzuordnen
und die bisher nur unzureichend berücksichtigte gesellschaftliche und politische Funktion
der Freimaurerlogen herauszuarbeiten.21 Die Ansätze Kosellecks sind inzwischen von
anderen Wissenschaftlern weitergeführt, modifiziert und korrigiert worden. Neue Fokussierungen
kamen hinzu. Ludwig Hammermayer und Monika Neugebauer-Wölk, selbst durch
grundlegende Beiträge zur Freimaurerforschung ausgewiesen, haben wichtige Aspekte und
Entwicklungsstufen der Geschichte der Freimaurerforschung beschrieben.22 Heute erstreckt
19 Neugebauer-Wölk, Monika: Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung,
in: Quatuor Coronati Jahrbuch 2003, S. 12ff.
20 Wilson, Daniel W.: Unterirdische Gänge: Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999. Zur Kritik
an Wilson: Joachim Bauer, Gerhard Müller: »Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben«. Tempelmaurerei,
Aufkärung und Politik im klassischen Weimar, Jena 2000.
21 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Auflage,
Freiburg/München 1969, insbes. S. 55ff.
22 Hammermayer, Ludwig: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften
im 18. Jahrhundert, a.a.O, S. 17ff.; Monika Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer: Plädoyer
für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Quatuor Coronati
Jahrbuch 39/2002, S. 7ff.; dies.: Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung,
in: Quatuor Coronati Jahrbuch 40/2003.
164
sich das Interesse der Forschung auf ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen.
Nicht nur Historiker, sondern auch Literaturwissenschaftler, Religionswissenschaftler, Ritualforscher,
Theaterwissenschaftler, Kommunikationsforscher, Politologen und Soziologen
entdeckten im Kontext ihrer Forschungsfelder interessante Aspekte der Freimaurerei. Die
Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen wuchs an, die Zahl der Habilitationen23,
Dissertationen24 und Magisterarbeiten zu freimaurerischen oder zumindest freimaurerrelevanten
Themen ist angestiegen. Es bildeten sich Brücken zwischen extern-universitärer und
intern-freimaurerischer Forschung, die dem Ansehen der Bruderschaft zugutekommen, und
bei denen in ihren Disziplinen ausgewiesene Forscher, die der Freimaurerei angehören, wie
etwa der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt, der Aachener Philosoph Klaus Hammacher
und der Innsbrucker Historiker Helmut Reinalter, eine impulsgebende Rolle spielten.
Fasst man thematisch zusammen, so lässt die stärkere Berücksichtigung der Freimaurerei in
der wissenschaftlichen Forschung seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vier Hauptansätze
erkennen, vier wissenschaftliche Diskursstränge, an denen als Forscher Nicht-Freimaurer
wie Freimaurer beteiligt waren:
1. Thematisierung der Rolle der Freimaurerei als ein auf zukünftige Offenheit und Freiheit angelegter
moralischer Innenraum im politisch-sozialen Umfeld des Absolutismus. Hier ist
vor allem auf Reinhart Koselleck mit seiner bereits erwähnten Studie »Kritik und Krise«
hinzuweisen. Zu nennen sind aber auch Forscher wie Ludwig Hammermayer, Rudolf
Vierhaus25, Jürgen Habermas26, Michael Voges27, Norbert Schindler28 – die beiden Letzteren
mit vorzüglichen Beiträgen zur Vermittlung zwischen Kultur- und Sozialgeschichte
– sowie – als dem Bund angehörende Forscher – Helmut Reinalter29 und Winfried
Dotzauer30.
23 Unter den Habilitationsschriften sei insbesondere hingewiesen auf: Westerbarkey, Joachim: Das Geheimnis.
Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991, sowie Simonis,
Linda: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert,
Heidelberg 2000.
24 Unter den neueren Dissertationenen sind von herausragender Qualität: Maurice, Florian: Freimaurerei
um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997;
Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
1840–1918, Göttingen 2000.
25 Vierhaus, Rudolf: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert,
Göttingen 1987, S. 110–125.
26 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1990, suhrkamp taschenbuch wissenschaft
(Erstveröffentlichung 1962).
27 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte
am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Rahmen des späten 18. Jahrhunderts,
Tübingen 1987.
28 Schindler, Norbert: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Geheimnisses in
der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: Berdahl/Lüdtke/Medick/Poni/Reddy/Sabean/Schindler/
Sider: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt
am Main 1 1982, S. 205–262.
29 Reinalter, Helmut: Die Freimaurer, München 2000.
30 Dotzauer, Winfried (Hrsg.): Quellen zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert,
Frankfurt/M. 1991.
165
2. Wiederentdeckung der Esoterik und des Spannungsverhältnisses zwischen Esoterik und
Aufklärung als Gegenstand historischer Forschung. Diese Entwicklung der Freimaurerforschung
ist vor allem Monika Neugebauer-Wölk in Halle zu verdanken31 und wird inzwischen
in zahlreichen Forschungsprojekten weitergeführt.
3. Aufschwung der Ritualforschung32 im Kontext historischer und vor allem religionswissenschaftlicher
Forschung. Aus dem Freimaurerbund heraus hat hierzu vor allem Jan
Snoek33 entscheidend beigetragen, insbesondere durch eine Integration engerer freimaurerischer
Gesichtspunkte in den allgemeinen Kontext der Ritualforschung.
4. Weiterentwicklung dessen, was man, Fichte folgend, Philosophie der Freimaurerei nennen
kann und wofür aus dem Bund prominente Namen wie Alfred Schmidt34, Klaus Hammacher35
und Klaus-Jürgen Grün36 zu nennen sind.
Die Forschungsloge »Quatuor Coronati« hat sich sehr um eine enge Verzahnung der externen
und internen Freimaurerforschung bemüht. Hinzuweisen ist auf:
• die »offenen« Arbeitstagungen der Forschungsloge mit interner und externer Beteiligung37,
• die Beiträge externer Forscher im Quatuor Coronati Jahrbuch,
• die Aufnahme von Dissertationen in das Publikationsprogramm der Forschungsloge,
wobei zuletzt Stefan-Ludwig Hoffmanns38 preisgekrönte Arbeit »Politik der Geselligkeit«,
Kristiane Hasselmanns39 Berliner Dissertation »Die Rituale der Freimaurer« und Marcus
Meyers40 Hamburger Dissertation »Bruder und Bürger« besonders hervorzuheben sind,
• das Forschungsprojekt »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der soziologischen Fakultät
der Bielefelder Universität,
• das Netzwerk Freimaurerforschung (www.freimaurerforschung.de).
31 Neugebauer-Wölk, Monika (Hrsg.): Aufklärung und Esoterik a.a.O.; dies.: Esoterik als Element freimaurerischer
Geschichte und Geschichtsforschung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch, Nr. 40/2003, S. 9–32.
32 S. unter den deutschsprachigen Veröffentlichungen: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): Ritualtheorien.
Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998, sowie Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg
(Hrsg.): Rituelle Welten, Paragrana 12/2003.
33 Snoek, Jan: Die historische Entwicklung der Auffassungen über Geheimhaltung in der Freimaurerei, in:
Quatuor Coronati Jahrbuch Nr. 40/2003, S. 51–60; ders.: Drei Entwicklungsstufen des Meistergrades,
in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 21–46.
34 Schmidt, Alfred: Freimaurerei und Religion: Historisch-philosophische Grundlagen ihres Verhältnisses,
in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 11–20.
35 Hammacher, Klaus: Einübungsethik. Überlegungen zu einer freimaurerischen Verhaltenslehre, Bayreuth
2005.
36 Grün, Klaus-Jürgen: Philosophie der Freimaurerei. Eine interkulturelle Perspektive, Interkulturelle Bibliothek,
Band 124, Nordhausen 2006.
37 Texte der Beiträge veröffentlicht in verschiedenen Ausgaben von »Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung
«.
38 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
1840–1918, Göttingen 2000.
39 Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Performative Grundlegungen eines freimaurerischen
Habitus im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2008.
40 Meyer, Marcus: Bruder und Bürger. Freimaurerei und Bürgerlichkeit in Bremen, Bremen 2010.
166
Die nachhaltige Entdeckung der Freimaurerei für die universitäre Forschung hat nicht nur
wissenschaftliche Bedeutung. Sie steigert auch das Interesse an der Freimaurerei und das
Wissen über die Freimaurerei innerhalb der deutschen Gesellschaft auch außerhalb der Wissenschaft:
• Zunächst ist es auch in einem weiteren – d.h. über den engeren wissenschaftlichen Kontext
hinausgehenden – Sinne von beträchtlicher Relevanz, dass Freimaurerforschung inzwischen
einen legitimen Platz in der wissenschaftlichen Forschung einnimmt, und dies
in einer multidisziplinären Perspektive, die sich gleichermaßen auf Geschichte, Philosophie,
Religionswissenschaften und Sozialwissenschaften erstreckt. Wichtig aber ist vor
allem auch, dass jüngere Forscher und Forscherinnen angesprochen werden und sich die
Zahl der Diplom- und Magisterarbeiten, Dissertationen und Habilitationsschriften zu
freimaurerischen oder freimaurerrelevanten Themen beträchtlich erhöht hat.
• In diesem Zusammenhang ist auf zahlreiche internationale Konferenzen zur Freimaurerforschung
hinzuweisen, an denen Freimaurer und Nichtfreimaurer, Forscherinnen
und Forscher sowie jüngere und ältere Wissenschaftler beteiligt sind, und unter denen
die im zweijährigen Turnus abgehaltene »Conference on the History of Freemasonry«
(2007 und 2009 in Edinburgh, 2011 in Alexandria, Virginia, USA) besondere Bedeutung
zukommt.
• Es ist gleichfalls von Relevanz für die öffentliche Wahrnehmung des Bundes, dass Freimaurerei
zunehmend Eingang in die universitäre Lehre findet41.
• Ebenfalls ist bedeutsam, dass sich im Zusammenhang mit der Ausweitung freimaurerischer
Forschung eine erhöhte Aufmerksamkeit einer weiteren kulturellen Öffentlichkeit
zeigt, wobei vor allem die Medien, die Bibliotheken und die Museen zu nennen sind:
Die bedeutenden Freimaurerausstellungen der jüngeren Vergangenheit – ich nenne nur
die Ausstellungen in Weimar42, Jena43 und Bremen44 – wären ohne das erhöhte Interesse
und eine vorbereitende bzw. begleitende Rolle der Wissenschaft nicht möglich gewesen.
Insgesamt ist das Ineinandergreifen von öffentlicher Aufklärung über die Freimaurerei und
wissenschaftlicher Kooperation zwischen Freimaurerei und Freimaurerforschung für eine
gedeihliche Entwicklung des Bundes unverzichtbar geworden – auch in Anbetracht der parallel
zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Freimaurerei zunehmenden Belebung
oder Wiederbelebung von Verschwörungswelten und Fantasievorstellungen.
Bedauerlich ist freilich, dass die freimaurerische Gegenwart bis jetzt nur wenig Interesse
bei der externen Forschung gefunden hat. Der Ruf der Freimaurerei ist vielfach eben doch
eher der eines Verwalters historisch-kultureller Tradition. So ist freimaurerische Gegenwartsforschung,
wenn sie gewollt ist, die eigene Aufgabe von Forschung betreibenden Freimaurern.
41 S. Internetrecherche zu »Lehrveranstaltungen über freimaurerische Kontexte an deutschen Universitäten
«, Netzwerk Freimaurerforschung, www.freimaurerforschung.de.
42 Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Ausstellung im Schiller-Museum Weimar,
21. Juni bis 31. Dezember 2002.
43 Bausteine zur Stadtgeschichte: Logenbrüder, Alchemisten und Studenten – Jena und seine geheimen Gesellschaften
im 18. Jahrhundert, Ausstellung im Romantikerhaus Jena, 16. Juni bis 15. September 2002.
44 Licht ins Dunkel. Die Freimaurerei und Bremen, Focke-Museum Bremen, 2. Juli bis 29. Oktober 2006.
167
Was kann freimaurerische Gegenwartsforschung leisten?
Nicht das, was manche Freimaurer erhoffen und andere befürchten: nämlich ein wissenschaftlich
begründetes freimaurerisches Leitbild zu erstellen, Modelle zu entwerfen oder gar
Großlogen ideologisch-konzeptionell zu beraten.
Entscheidungen über Selbstverständnis, Profil und Ziel ihres Bundes müssen die Brüder
Freimaurer selber treffen und zwar vor allem durch das, wovon dieser Beitrag handelt:
ihre Diskurse. Forschung kann jedoch Handlungsfelder transparenter machen, kann Ausgangslagen
klären, kann Widersprüche deutlich machen, kann vor Selbstüberforderungen
schützen, kann das Freimaurerbild komplexer machen.
Ich stehe für ein Ja zu einer gegenwartsorientierten Freimaurerforschung, gerade auch
weil ich ein engagierter Freimaurer bin und weil es mich bedrückt, wenn der Freimaurerbund
sich überflüssigerweise gleichsam auf Wissens- und Aufklärungsdiät setzt. »Wissensdiät«
schadet dem Bund, weil die Ressource der Vielgestaltigkeit und Komplexität der Freimaurerei,
ihres kulturgeschichtlichen und historischen Reichtums (wozu durchaus auch Ungereimtheiten
und Widersprüche gehören) nicht genutzt wird und Chancen zum Gespräch
mit Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft verpasst werden. »Aufklärungsdiät« bremst den
Schwung der inneren Auseinandersetzung und beeinträchtigt die Intensität der Diskurse, die
zum Thema »Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?« geführt werden müssen.
Müssen? Ja müssen: Freimaurerei, wie sie heute ist und morgen gestaltet werden soll,
lässt sich nicht in Lehrbüchern beschreiben und durch Großlogenbeschlüsse umsetzen.
Lebendige Freimaurerei entsteht ausschließlich durch die Kommunikation der Brüder. Ein
lebendiger Diskurs muss zu einer Freimaurerei beitragen, die nach innen und außen überzeugend
und identitätsstiftend wirkt.
Wie steht es also um die freimaurerischen Diskurse heute?
3. Der Freimaurerdiskurs der Gegenwart
Die folgenden Ausführungen sind mehr Bestandteile eines Arbeitsprogramms als Ergebnisse
intensiver Forschungsarbeit. Die Fülle der Texte, die es auszuwerten gilt, ist überwältigend.
Zugleich wird deutlich, das ein diskursanalytisches Herangehen erfolgversprechend ist. Freimaurer
produzieren nun einmal vor allem Worte, mit denen sie für sich selbst und andere
die Freimaurerei konstituieren. Taten der Freimaurer sind spärlich. Aber wir haben ja von
Lessing, dem uns liebsten aller freimaurerischen Klassiker, gelernt, dass die eigentlichen Taten
der Freimaurer gerade darin bestehen, am richtigen Ort, zur rechten Zeit, mit den richtigen
Partnern die richtigen Worte zu wechseln, ein »gemeinschaftliches Gefühl sympathisierender
Geister« zu entwickeln, laut mit dem Freunde zu denken und hierdurch die Grenzen
zu überwinden, die das Leben in komplexen Gesellschaften so bedrohlich machen.45
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Freimaurerei in Deutschland
und behandeln dabei wiederum vor allem das Diskursgeschehen innerhalb der Großloge
AFuAM, der weitaus größten unter den Partnergroßlogen der Vereinigten Großlogen von
45 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »Ernst und Falk« und die Freimaurerei der Gegenwart, Schriften der
Lessinggesellschaft, Hamburg 2005.
168
Deutschland, und der deutschen Großloge, mit der ich selbst durch Mitwirkung in vielen
Gremien am meisten verbunden bin.
3.1 Grundsätzliches
Definitionen und Unterscheidungen helfen bei der analytischen Ordnung der Diskurse. Zunächst:
Im Freimaurerdiskurs tauchen die verschiedensten Themen auf, und thematisch einheitliche
Diskursverläufe können jeweils als Diskursstränge bezeichnet werden.46 So lassen
sich etwa Ritual-, Reform- und Regularitätsdiskurse unterscheiden.
Jeder der thematischen Diskursstränge hat eine synchrone und eine diachrone Dimension:
Synchron bezieht sich auf die Frage, was beispielsweise in einem bestimmten Zeitabschnitt
– an der Wende zum 19. Jahrhundert etwa oder heute – zum Ritual gesagt wird und
wie sich der Ritualdiskurs zu anderen thematischen Diskurssträngen der gleichen Periode
verhält.
Diachron bezieht sich auf die Frage, welche (gleichen oder verschiedenen) Inhalte der
Ritualdiskurs beim »Fließen durch die Zeit«47 hatte, beim Vergleich von heute, gestern und
vorgestern, wenn wir etwa den Ritualdiskurs bei Feßler und Schröder mit dem heutigen –
sagen wir bei Klaus Horneffer oder Alfried Lehner – vergleichen.
Diskurse verändern sich im Verlauf der Zeit, ja, sie machen zuweilen regelrechte Sprünge.
Solche Richtungswechsel von Diskursen sind abhängig
• von der Situation des Bundes, von Ereignissen im Bund, wie es etwa die Reformdebatte
nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« zeigt,
• vom Auftreten charismatischer Persönlichkeiten, die den Diskursen eine neue Richtung
geben (als Beispiel hierfür kann der von Lessing, Herder, Fichte und Krause geprägte
»klassische« Freimaurerdiskurs48 gelten), und nicht zuletzt
• von den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die Freimaurerdiskurse
eingebettet sind und deren bestimmende Kraft die Folgerung nahelegt, dass die Zeit
die Freimaurerei immer in einem stärkeren Maße bestimmt hat als die Freimaurerei die
Zeit.
Vergleichen wir einmal die drei Fünfjahresperioden 1927–1932, 1947–1952 und 1967–1972.
1927–1932 erfasste die rechts-völkische Wende große Teile des deutschen Bürgertums
und der Freimaurerei, und die Diskurse in Freimaurerei und Gesellschaft waren gleichermaßen
in starkem Maße auf nationale Apologie ausgerichtet.49
46 Jäger, Siegfried: Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse,
http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, Download 15.6.2006.
47 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse: Eine Einführung, 4. Auflage, Münster 2004.
48 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
Jahrbuch Nr. 41/2004, S. 232–234.
49 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
in diesem Band, S. 51–57.
169
1947–1952 dominierten in der deutschen Gesellschaft und Freimaurerei die Bemühungen
um Anschluss an das westliche Modell der Demokratie und internationale Versöhnung.
Beiderseits – in Gesellschaft wie Freimaurerei – kam es folglich zur Verdrängung der
Erinnerung an nationalsozialistische Anpassung, beiderseits war der Erinnerungsdiskurs
defizitär.50 Auch der »Kalte Krieg« wurde in der Freimaurerei ganz typisch westdeutsch
thematisiert: So hieß es im Jahre 1951 auf dem Großlogentag der Vereinigten Großloge
von Deutschland in Bad Ems: »Der Großmeister hat den Kreis derer umrissen, die dazu
berufen sind, den geistig-sittlichen Kampf gegen die furchtbare totalitäre Macht des Ostens
als Aufgabe der Gegenwart gemeinsam zu führen.«51
1967–1972 zeigten sich in der Freimaurerei und ihren Diskursen von der 1968er-Bewegung
zwar insgesamt nur moderate, aber doch deutlich spürbare Reaktionen. So erklärte
beispielsweise Hans Gemünd, Großmeister der Alten, Freien und Angenommenen Maurer,
das Thema »Demokratie und Opposition« zweimal hintereinander zum Jahresthema der
Großloge und zum Thema eines Podiumsgesprächs auf dem Würzburger Großlogentag im
Jahre 1969.52
Im Großen und Ganzen weist der Freimaurerdiskurs der Nachkriegszeit – trotz gelegentlicher
Akzentverlagerungen, trotz Veränderungen im Stil des Sprechens und Schreibens
– ein hohes Maß an Redundanz auf. Die gleichen Themen kehren immer wieder, Konstanz
der Diskursstränge überwiegt und auch im Einzelnen stimmen viele Argumente und
Schlagworte in diachroner Perspektive überein.
Insbesondere Lagebeschreibungen wie »Die Zeit der Selbstzufriedenheit unserer Bruderschaft
ist längst vorbei« und Appelle wie »Wir wollen die in der Abgeschlossenheit unserer
Bauhütten gepflegten und erarbeiteten Gedanken unbeirrt in die Tat umsetzen« durchziehen
die letzten Jahrzehnte. Es ist schwer auszumachen, ob die genannten Zitate aus 1950,
1975 oder dem Jahr 2000 stammen.
Die Auswahl von Diskursen für analytische Zwecke ist nun abhängig vom jeweiligen
Anliegen der Forschung. Ihre eingehende Untersuchung verspricht sowohl Gewinn für die
Beantwortung der (empirischen) Frage, was Freimaurerei war und ist, als auch für (normative)
Überlegungen, was Freimaurerei sein und leisten kann.
3.2 Diskursstränge
Identifizierbar unter den Freimaurerdiskursen der Gegenwart ist zunächst ein Diskursstrang,
der sich durch die ganze Geschichte der Freimaurerei gezogen hat, den man daher als den
»freimaurerischen Grunddiskurs« bezeichnen kann und der immer auf die Erörterung der
im Titel meines Beitrags genannten Frage »Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?« hinausläuft.
50 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerische Erinnerungskultur, in TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
Quatuor Coronati, I/2005, S. 4–12.
51 Protokoll des Großlogentages 1951 der Vereinigten Großloge von Deutschland in Bad Ems, Bibliothek
des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth.
52 Demokratie und Opposition, Hamburg 1969.
170
Geht man den Verästelungen des freimaurerischen Grunddiskurses in seine verschiedenen
thematischen Diskursstränge nach, so lassen sich Diskurse über folgende thematische Komplexe
unterscheiden:
1. Nationale Struktur der deutschen Freimaurerei und ihre internationale Einordnung:
• Einheitsdiskurs:
Frage nach der einen deutschen Großloge, Vereinigte Großlogen von Deutschland (VGLvD)
als Übergangsmodell oder als langfristig gültige Organisationsform der Freimaurerei
in Deutschland? Der »Einheitsdiskurs« ist allerdings in der jüngeren Vergangenheit fast
vollständig zum Erliegen gekommen. Dies ist auf die gegensätzlichen Einstellungen der
Hauptpartner der VGLvD, der Großloge AfuAM und der Großen Landesloge der Freimaurer
von Deutschland zurückzuführen. Während die GL AFuAM weitgehend intergrationsfreundlich
orientiert war und den Integrationsprozess bis hin zu einer »wirklichen«
Großloge im Verständnis der internationalen Freimaurerei weiterführen wollte, fürchtet
die Große Landesloge um den Bestand ihrer institutionellen Struktur und konzeptionellen
Identität, hält die Zusammenführung der deutschen Freimaurer unter einem Dach
für abgeschlossen und steht weiteren Integrationschritten bisher ablehnend gegenüber.
Um Fortschritte auf dem Weg zu einer internationalen Maßstäben genügenden Großloge
zu erreichen, wäre deshalb zunächst der »Einheitsdiskurs« wieder nachhaltig zu beleben.
• Regularitätsdiskurs:
Wie soll und kann sich das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Freimaurerei
(Grand Orient de France und Grande Loge de France) weiterentwickeln? Genderproblematik:
Wie soll die Freimaurerei der Männer mit der Freimaurerei der Frauen umgehen?
2. Soziale Struktur der Freimaurerei:
• Elitediskurs:
Ist der Freimaurerbund eine Elite, und wenn ja, in welchem Sinne (dem Anspruch nach,
in der Realität, eine Statuselite, eine Habituselite, eine Verantwortungselite)?
3. Ideenwelt und Werte:
• Wertediskurs:
Zu welchen Werten bekennt sich die Freimaurerei, und wie sind diese Werte in die heutige
Praxis des Bundes umzusetzen?
4. Symbole und Rituale:
• Ritualdiskurs:
Hier geht es um Herkunft, Bestandteile und Rolle der freimaurerischen Symbole und Rituale
sowie um ihre Bedeutung für Konstituierung und Selbstverständnis der Freimaurerei,
beispielsweise um die zuletzt von Klaus Horneffer, Großmeister der Vereinigten
Großlogen von Deutschland bis Oktober 2006, in einem vom NDR gesendeten Podiumsgespräch
aufgeworfene (und im positiven Sinne beantwortete) Frage, ob die zentrale
Stellung des Rituals die Freimaurerei zu einer religiösen Vereinigung macht.53
53 »Man missversteht die Freimaurerei, wenn man nicht erkennt, dass es sich in Wirklichkeit um einen religiösen
Bund handelt. Das Religiöse steht im Mittelpunkt der Freimaurerei, nicht die Ideale, nicht die
Ziele.« »Streng geheim!« – Perspektiven der Freimaurerei, NDR-Literarisches Caféhaus, 19.2.2006.
171
5. Öffentlichkeitsarbeit und öffentliche Aufgaben:
• Diskurs Öffentlichkeitsarbeit:
Wie soll in Bezug auf Außendarstellung und öffentliche Vermittlung der Freimaurerei
verfahren werden?
• Aufgabendiskurs:
Was sind die Taten der Freimaurer? Hat die Freimaurerei »öffentliche Aufgaben«? Wie
steht es um öffentliche Präsenz, gesellschaftliche Partizipation und politisches Engagement
des Freimaurerbundes?
Auf einen dieser Diskurse will ich ausführlicher eingehen: den Diskurs um das Verhältnis
zwischen Freimaurerei und Politik. Dabei möchte ich auch meinen eigenen Standpunkt darlegen,
d.h. vom Diskursanalytiker zum Diskursteilnehmer mutieren.
3.3 Diffenzierende Begrifflichkeiten
Doch zuvor empfiehlt es sich, einige weiter differenzierende Begrifflichkeiten einzuführen,
die bis auf die letzte (Diskurshoheit), die von mir – weil für den Kontext unverzichtbar – ergänzt
wurde, der Diskursanalyse Siegfried Jägers54 entnommen und auf die Freimaurerei zu
bezogen wurden.
Neben den schon erörterten Diskurssträngen mit ihren synchronen und diachronen Aspekten
lassen sich unterscheiden:
Diskursfragmente:
Jeder Diskursstrang setzt sich aus einer Fülle von Elementen zusammen, die man traditionell
auch als »Texte« bezeichnet. Diskursfragment ist ein Text oder ein Textteil, der ein bestimmtes
Thema behandelt. Diskursfragmente verbinden sich zu Diskurssträngen. Schlüsseltexte
spielen eine besondere Rolle: Die »Alten Pflichten« sind ein gutes Beispiel dafür. Gleichzeitig
verdeutlichen die »Alten Pflichten«, dass ein Text mehrere verschiedene Diskursfragmente
enthalten kann, die unterschiedlichen Diskurssträngen zugeordnet werden können.
So thematisiert der Abschnitt »Von Gott und der Religion« das Verhältnis zwischen Freimaurerei
und Religion, während der Abschnitt »Betragen, wenn die Loge vorüber ist, die Brüder
aber noch nicht auseinandergegangen sind« das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik
anspricht. Ein Schlüsseltext der Gegenwart sind – jedenfalls für die Mitglieder der Großloge
AFuAM von Deutschland – die sogenannten »Leitgedanken zur Freimaurerei«55. Fast
keine Homepage der AFuAM-Logen kommt heute ohne sie aus. Wiederum handelt es sich
um einen Text, der mehrere Diskursfragmente enthält.
Diskursebenen:
Diskursstränge operieren auf verschiedenen diskursiven Ebenen. Diskursebenen lassen sich
als soziale Orte bezeichnen, von denen aus jeweils gesprochen wird, wobei verschiedene
Ebenen des Diskurses aufeinander einwirken können. Für die Freimaurerei lassen sich u.a.
54 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2009.
55 Text im Internet unter: http://www.freimaurerei.de/index.php?id=9.
172
folgende Diskursebenen unterscheiden: Großlogengremien und Großlogenveranstaltungen
(Großlogentage, Großlogentreffen), Logen, Collegia Masonica, freimaurerische Zeitschriften,
Buchpublikationen, Filme, Videos, Internetpräsenz (Homepages), Internet-Chaträume
u.s.w.
Diskursive Ereignisse:
Diskursive Ereignisse prägen den Verlauf von Diskursen, lösen Diskurse aus: rechtsradikale
Gewalt, Wertewandel und Literatur darüber, vermittelt durch provozierende Artikel in der
freimaurerischen Presse oder Feststellungen prominenter Freimaurer.
Diskurspositionen:
Diskursposition meint die spezifischen argumentativen Standorte von Institutionen, Personen,
Gruppen, Medien: für oder gegen Aufarbeitung völkischer Traditionen in der Freimaurerei,
für oder gegen mehr Ritual in der Logenpraxis, für oder gegen mehr Öffnung zur
Gesellschaft, für oder gegen Prinzipien der »Regularität«, für oder gegen ein politisches Engagement
der Freimaurerei.
Diskurshoheit:
Die Teilnehmer am Diskurs sind zwar alle gleich, de facto aber sind Unterschiede da. Höhere
Gremien, leitende Personen, ausgewiesene Autoritäten beanspruchen entweder eine größere
Autorität für sich oder es wird ihnen eine solche von anderen Diskursteilnehmern zugeschrieben.
Ein Großmeister etwa nimmt folglich vermutlich mit größerer Wirkung am Diskurs
teil als andere Teilnehmer, auch wenn ihm nicht zugestimmt wird. Schließlich gehört zur
Diskurshoheit, dass mancher Bruder mit innovativen, wenn nicht gar unbequemen Auffassungen
gar nicht mehr an den Diskursen der freimaurerischen Leitungsorgane beteiligt wird.
3.4 Ethisch-normative Aspekte des Freimaurerdiskurses
Bevor ich zu inhaltlichen Aspekten des Freimaurerdiskurses der Gegenwart zurückkehre,
zuvor noch ein Wort zum normativen Umgang mit Diskursen, zu Diskursniveau und Diskursstil.
Hier scheint mir ein Arbeitsfeld des Freimaurerbundes gegeben zu sein, daß unsere
Aufmerksamkeit verdient.
Ein – zugegebenermaßen drastisches – Beispiel: Im Jahre 1980 wurden in der »Humanität
« sogenannte »Thesen bis zum Jahr 2000« veröffentlicht, die nicht allein auf die Freimaurerei
bezogen waren, sondern im allgemein Bereich von Werten und Weltbildern angesiedelt
waren. Diese Thesen erhielten Zustimmung. Sie stießen jedoch auch auf Kritik, die
von den Autoren (den Frankfurter Freimaurern Gerhard Grossmann und Alfred Schmidt)
wie folgt zusammengefasst wurde56: »Andere Brüder äußern sich anders. Einige verdammen
die Thesenaktion und die Autoren, wobei Ausdrücke wie ›Kathedergeschwätz‹, ›bedauernswerte
Thesen‹, ›unfreimaurerische Sprache‹, ›Gemeinplätze‹, ›mieseste Theologenpraxis und
-predigt‹, ›Unfug‹, ›krampfhaftes Bemühen‹, ›Blödsinn‹, ›halbgares Aufklärungsgeschwätz‹
sowie ›geistige Blähungen‹ fallen und uns Ungeistigkeit vorgeworfen wird.«
56 Grossmann, Gerhard/Schmidt, Alfred: Thesen bis zum Jahr 2000: Ein Entwurf und seine Kritiker, in:
Humanität, Das deutsche Freimaurermagazin, 6. Jg., Heft 2/1980, S. 8.
173
Damit stellt sich in der Tat die Frage: wann und wie Diskurse als Mittel der Verständigung
taugen, welcher normativen Diskursethik sie zu entsprechen haben und ob es in der
Freimaurerei eine »ideale Sprechsituation« (J. Habermas) gibt oder geben kann.
Anstoßgebend für das Bemühen um eine »ideale Sprechsituation« waren vor allem die
Beiträge zur Diskursethik von Jürgen Habermas, deren zentrales ethisches Kriterium der
Diskurs ist. Die Diskursethik beansprucht einerseits den Status einer allgemeinen Ethik57
und ist insofern z.B. mit der Ethik Kants, dem Kontraktualismus oder dem Utilitarismus
zu vergleichen; andererseits soll die Diskursethik aber auch klären, wie innerhalb von
Diskursen ethisch angemessen zu verfahren ist. Als »ideal« im Sinne von Habermas gilt
»eine Sprechsituation, in der Kommunikationen nicht nur nicht durch äußere kontingente
Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur
der Kommunikation selbst ergeben«.58 Freiheit von den von Habermas so genannten
»strukturellen Zwängen« ist dann gegeben, wenn alle Diskursteilnehmer die gleichen Chancen
haben, »Sprechakte zu wählen und auszuführen«, Geltungsansprüche anzunehmen
oder zurückzuweisen, die eigenen Gründe gelten zu lassen, die fremden eigenständig und
jenseits äußerer Nötigung zu prüfen. Die Symmetrie der Diskurssituation, also die Herrschaftsfreiheit,
zeichnet diese als eine ideale Diskurssituation aus.59
Was steht diskursethischen Postulaten in der Freimaurerei im Wege?
Auf drei Arten von Störfaktoren kann verwiesen werden:
1. Zunächst leiden Diskurse in starkem Maße unter persönlichen Befindlichkeiten (Frustrationen,
Missverständnissen, Streitlust, Abwesenheit postulierter freimaurerischer Tugenden,
problematisches intellektuelles Niveau) sowie unter ungünstigen Diskursbedingungen
(fehlende »Face-to-face-Situationen, Aggressionen enthemmende Anonymität
von Internetforen).
2. Weiter wirken sich die der Freimaurerei nicht fremden hierarchischen Strukturen und die
unterschiedliche Diskursautorität sowie die damit verbundenen Versuchungen negativ
auf die Sprechsituation aus: Auf der einen Seite wird nicht auf Diskurs, sondern auf Dekret
gesetzt, auf der anderen Seite wird Zurückhaltung geübt und Vorsicht praktiziert,
ohne dass diese Schieflagen der Sprechsituation hinreichend thematisiert und reflektiert
werden.60
3. Schließlich gibt es gleichsam schon institutionell gewordene internationale Rücksichten
(Regularitätsfrage, Genderdiskurs, Verhältnis von Männer- und Frauenlogen) sowie interne
Harmoniegebote, die einerseits mit der Struktur der VGLvD und den dort mühsam
gefundenen Meinungs- und Entscheidungsgleichgewichten, andererseits mit dem par-
57 Werner, Micha H.: Diskursethik, in: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.):
Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S. 140.
58 Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns,
Frankfurt/M. 1995, S. 177.
59 De Angelis, Gabriele: Die Vernunft der Kommunikation und das Problem einer diskursiven Ethik. Überlegungen
über Vernunft, Kommunikation und Ethik im kritischen Anschluss an die Diskursethik von
Jürgen Habermas, 1999, http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/1813, zitiert nach: Renner, Katharina:
Jürgen Habermas’ Diskurstheorie in der Anwendung, Heidelberg 2004, http://mirjam.ktf.univie.ac.at/
page/fileadmin/pdf/ wissenschaftliche_texte/HabermasArbeit.pdf.
60 Ausführlicher hierzu: Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im
Lichte der Soziologie Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
174
tiell und periodisch immer wieder einmal prekären Verhältnis zwischen blauen Logen
und Hochgradsystemen zusammenhängen. Die genannten Rücksichten und Harmoniegebote
begrenzen nicht nur die Spielräume der Diskurse, sondern machen auch eine behutsame,
gleichsam »wattierte« Sprache erforderlich, die dem Bemühen um Aufklärung
abträglich ist. Letztlich mischen sich bei all diesen Fragen Identitätsunsicherheiten, Legitimitätsängste
und fehlende Gelassenheit. Gewiss, Rücksichtnahme auf den Charakter
des Gesprächsgegenstands und den Partner ist erforderlich, doch setzen »Gesprächsbremsen
« des Öfteren bereits ein, bevor sie der Sache und Personen nach erforderlich wären.
Es ist Aufgabe der Freimaurerei, es ist gerade eine ihrer wichtigsten Aufgaben, sich um einen hohen
Standard der Diskursethik zu bemühen, sich klarzumachen, dass es nicht nur auf das »Was«
der Gespräche, sondern vor allem auch auf das »Wie« der Gespräche ankommt, dass zur Einübungsethik
der Freimaurerei auch die Einübung in gedeihliche Kommunikationsstile gehört.
Bei der diskursethischen Einübung hilft
• einerseits das Bevorzugen von Face-to-Face-Gesprächen,
• andererseits die Bereitschaft, bei anderen Formen der Kommunikation den Face-to-Face-
Test anzuwenden, d.h. sich die Frage zu stellen, inwieweit ich meinen Beitrag zum Diskurs
in einer Face-to-Face-Situation ändern müsste.
4. Der Diskurs über das politische Engagement der Freimaurerei
Als einer der beständigsten und zugleich engagiertesten Diskurse in Gegenwart und jüngerer
Vergangenheit kann das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik gelten. Immer wieder
wurden Forderungen angemeldet, die Freimaurerei müsse präsent sein im politischen Raum
und in den großen Auseinandersetzungen der Zeit.
Schon Ende der 50er Jahre im 1. Heft des 1. Jahrgangs der Zeitschrift »Die Bruderschaft
« fragte und antwortete Br. Eberhard Hornig61:
»Hat die Politik in der Freimaurerei etwas zu suchen? Nein!«
»Hat die Freimaurerei etwas in der Politik zu suchen? Ja!«
Und er erläuterte dazu:
»Wenn auch die Politik in der Freimaurerei nichts zu suchen hat, so hat, recht verstanden,
die Freimaurerei sehr wohl etwas in der Politik zu suchen. … Die Freimaurerei
kann und soll aus dem moralischen Gehalt ihres Wesens die Ideale der Toleranz
und der Humanität auch in das Spiel der politischen Kräfte hineintragen.«
Einerseits – andererseits. Die Freimaurerei darf und darf nicht, sie soll und sie soll nicht.
Offensichtlich ist dem Freimaurerbund der Impuls zum öffentlichen Wirken ebenso
eigen wie die Grenze, die es aus dem Wesen des Bundes heraus für ein solches Wirken gibt.
61 Hornig, Erhard: Ohne politische Scheuklappen, in: Die Bruderschaft, 1. Jahrgang 1959, S. 70–71.
175
Viele Beispiele ließen sich geben, und eine wichtige Forschungsaufgabe ist zu entdecken.
Die Forschungsloge »Quatuor Coronati« hat sich der Problematik auf einer ihrer letzten
Arbeitstagungen angenommen. Die Referate sind in der Zeitschrift »TAU« veröffentlicht.62
Insgesamt war das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik in der Nachkriegszeit
immer wieder – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – Gegenstand der publizistischen
Selbstverständigung in der freimaurerischen Presse.
Sechs verschiedene Ebenen dieses Verhältnisses sind dabei erkennbar. Es mag zweckmäßig
sein, diese Ebenen auch bei der weiteren Behandlung des politischen Freimaurerdiskurses
zu unterscheiden:
1. Beziehungen zur Politik im Sinne von Beziehungen zu den Repräsentanten von Politik (den
»politischen Räumen« sozusagen: Bundespolitik, Landespolitik, Kommunalpolitik);
2. Beziehungen zur Politik im Sinne der Identifizierung mit gesellschaftlich und politisch
relevanten
Werten und Überzeugungen (Menschenwürde, Freiheit, soziale Gerechtigkeit,
Toleranz und Friedensliebe);
3. Beziehungen zur Politik im Sinne von Stellungnehmen und Sicheinmischen, kurz eines
Engagements, das die Freimaurerei als Institution ins Spiel bringt und über bloße Reflexion
hinausgeht;
4. Beziehungen zur Politik im Sinne von sozialem und karikativem Handeln;
5. Beziehungen zur Politik im Sinne eines Einbeziehens von politischen Fragen in die Diskurse
der Logen, Großlogen und der anderen Formen bruderschaftlicher Organisation (etwa
die Akademie des AASR oder die Arbeitstagungen der Forschungsloge »Quatuor Coronati«);
6. Beziehungen zur Politik im Sinne von publizistischen Beiträgen, d.h. im Sinne von
»veröffentlichter Meinung der Freimaurer« in den Zeitschriften der Großlogen.
Für all diese Ebenen wären interessante Entwicklungen aufzuzeigen, denn überall gab es Anstöße,
die mehr oder weniger weit reichten, mehr oder weniger erfolgreich waren und mehr
oder weniger Konsens für sich beanspruchen konnten.
Ihre eingehende Behandlung muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Doch auf eine letzte Zuspitzung möchte ich noch eingehen, weil sie unterschiedliche, ja
entgegengesetzte Diskurspositionen auf anschauliche Weise deutlich macht.
Br. Rüdiger Oppers, Unternehmenssprecher des WDR und Redner der Großloge
AFuAM von Deutschland, schrieb in einem Beitrag zur Zeitschrift »Humanität«63, nachdem
er die Teilnahme des Großmeisters an Sabine Christiansens Politik-Talk-Runde befürwortet
hatte:
»Wir müssen acht geben, dass wir es uns nicht in der schönen Welt des geistigen Tempelbaus
bequem machen. Wir würden ja lediglich in einer Scheinwelt leben. Im Tempel
entsteht der Bauriss einer gerechten Gesellschaft. Im Logenleben wird dieser Plan
in Diskussionen, sogar Bruderzwisten erprobt.
Wir verfügen über eine Jahrhunderte alte Erfahrung, wie man unterschiedlichste
Gruppen und Interessen zusammenbringt.
62 TAU, Zeitschrift der Forschungsloge Quatuor Coronati, II/2005.
63 Oppers, Rüdiger: Geht hinaus in die Welt: Politik und Freimaurerei, in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
31. Jg., Heft 5/2005, S. 7–11.
176
Wir können den ›Alten Pflichten‹ treu bleiben ohne eine Sehnsucht nach dem unwiederbringbar
vergangenen Gestern. Was wir für die Gestattung der Zukunft unseres
Bundes brauchen, sind ›neue Pflichten‹! Zu diesem Pflichtenkatalog gehört unter
anderem:
• Die Öffnung der Freimaurer für den gesellschaftlichen Diskurs
• Die Diskussion mit der Politik
• Die Öffnung der Logen für Themen der Allgemeinheit und für möglichst viele
Menschen
• Die selbstbewusste Darstellung freimaurerischer Werte in der Öffentlichkeit
• Die selbstverständliche Repräsentation der Freimaurer in Kultur und Gesellschaft.«
Br. Jürgen Gansäuer, Präsident des niedersächsischen Landtages, legte in der Zeitschrift
»TAU«64 Widerspruch ein, den er zuvor auf der Quatuor Coronati-Arbeitstagung in Altenburg
vorgetragen hatte:
»Ich habe Zweifel daran, ob der Freimaurerei und der politischen Kultur in unserem
Land wirklich geholfen wäre, wenn der Großmeister regelmäßig als Sprecher der Logen
bei Sabine Christiansen und ähnlichen Talkshows zu Gast wäre.
Die Frage ist doch: Was würde der Großmeister bei Sabine Christiansen sagen und
mit welcher Verbindlichkeit spräche er politisch für die Logen und den einzelnen
Bruder? Hätte er der Westbindungspolitik Adenauers zugestimmt, der Einführung
der Bundeswehr, dem Nato-Beitritt, den Weichenstellungen für die Europäische Gemeinschaft,
dem Nato-Doppelbeschluss, der Beteiligung Deutscher Truppen im Kosovo
oder der Einführung des Euro? Wäre die Welt gar besser, wenn sie nur noch von
Freimauren regiert würde?
Die Wahrheit ist: Das gemeinsame Bekenntnis zur Humanität und Toleranz impliziert
geradezu, dass Freimaurer aus guten Gründen zu unterschiedlichen politischen
Wertungen gelangen können. Was also soll man sagen, wenn man so selbstbewusst
an die Öffentlichkeit geht, wie es hier vorgeschlagen wird, und Pressekonferenzen
veranstaltet und darauf hin arbeitet, zu Empfängen und Diskussionen im Radio und
im Fernsehen eingeladen zu werden? Brauchen wir wirklich eine solche ›Öffnung
der Freimaurer für den gesellschaftlichen Diskurs‹, einen institutionalisierten Dialog
›der‹ Freimaurer mit ›der‹ Politik?
Ich sage da ein deutliches Nein!«
Verfolgt und bilanzierte man nun die Positionen, die zum Verhältnis Freimaurerei und Politik
im Laufe der letzten Jahre vertreten worden sind, dann stellt sich mir Folgendes mit aller
Deutlichkeit heraus:65
64 Gansäuer, Jürgen: Freimaurerische Werte und politische Praxis, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
Quatuor Coronati, II/2005, S. 26–36.
65 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Deutsche Freimaurerei und Politik nach dem Zweiten Weltkrieg: Zustimmung
zur Demokratie – Grenzen für politisches Engagement, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
»Quatuor Coronati«, II/2005, S. 52–60.
177
• Für ein gemeinsames politisches Stellungnehmen oder gar Handeln gibt es in der Freimaurerei
wenig Raum. Werte wie Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit lassen sich zwar gegenüber
manifester, insbesonderer totalitärer Unfreiheit, Intoleranz und Ungerechtigkeit gemeinsam
vertreten. In Systemen, die verfassungsmäßig auf Freiheit, Toleranz und Gerechtigkeit
angelegt sind, ist die Realisierung der genannten Werte jedoch Resultat der Auseinandersetzung
programmatisch unterschiedlich ausgerichteter demokratischer Gruppierungen.
Zu diesen gehören Logen und Großlogen aufgrund von Tradition und Selbstverständnis
nicht. Wer meint, aus einer freimaurerischen Vereinigung eine parteinehmende
Gruppierung machen zu können, bewirkt, dass zuerst die Freimaurerei in Parteien und
als Bund dann schließlich gänzlich zerfällt.
• Ausnahmen von dieser Regel bestehen allerdings im Falle grober Verstöße gegen gemeinsame
Überzeugungsgrundlagen (etwa rassistische Entgleisungen). Dann können, ja müssen
Freimaurer gemeinsam vorgehen, weil Überzeugungen verletzt werden, in denen Freimaurer
übereinstimmen, weil und solange sie Freimaurer sind.
• Das öffentliche Auftreten von Freimaurern im Namen der Freimaurerei erfordert Behutsamkeit,
und kein Repräsentant des Bundes sollte in solchen Fällen Aussagen zu politischen
Problemen und Vorgängen als »freimaurerisch« deklarieren, wenn diese im Rahmen
einer demokratischen Ordnung umstritten sind und folglich auch von Freimaurern
ganz unterschiedlich beurteilt werden können.
• Die Loge kann und soll politisches Handeln des einzelnen Freimaurers vorbereiten und unterstützen,
indem sie ihre Mitglieder informiert, zur Reflexion einlädt, motiviert und
mögliche Diskurs- und Handlungsfelder durch »Orientierungen« kenntlich macht, wobei
es dann jedoch der einzelne Freimaurer ist, der politisch zu entscheiden und zu handeln
hat.
Ich habe in verschiedenen Beiträgen sechs derartige »Orientierungen« für ein freimaurerisches
»Interesse an der Politik« vorgeschlagen. Diese Orientierungen entsprechen sowohl der freimaurerischen
Wertetradition als auch den politischen Aufgabenfeldern im Zeitalter der Globalisierung.
Daher sind sie auch geeignet, den politischen Diskurs der Freimaurer zu strukturieren
und den thematischen Rahmen für Gespräche im öffentlichen Raum vorzugeben.
Ich benenne im Folgenden die von mir vorgeschlagenen Orientierungen und ordne ihnen
jeweils pointierte inhaltliche Thesen zu:
• die humanitäre Orientierung: Zentrale Werte der Freimaurerei sind Würde und Glückseligkeit
jedes einzelnen Menschen;
• die demokratische Orientierung: Freimaurer gehen davon aus, dass Würde und Glückseligkeit
des Menschen sich aller Erfahrung nach am besten in der politischen Freiheit demokratisch
verfasster Systeme sichern lassen;
• die soziale Orientierung: Freimaurer sind der Überzeugung, dass Würde und Freiheit des
Menschen ohne Bemühen um soziale Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden können;
• die ökologische Orientierung: Freimaurer stimmen darin überein, dass ohne Friede mit der
Natur menschliches Dasein unter industriegesellschaftlichen Bedingungen nicht möglich
ist;
• die globale Orientierung: Alle Politik ist heute an globalen Maßstäben, symbolisch ausgedrückt
an der freimaurerischen Idee der Weltbruderkette, zu messen und
178
• die rationale Orientierung: Freimaurer gehen davon aus, dass handlungsleitende Orientierungen
in der Welt Wissenschaftlichkeit und kritisch rationale Diskurse erfordern.
Diese Orientierungen sind nicht dogmatisch, aber auch nicht beliebig. Sie repräsentieren
gleichermaßen den minimalen Konsensrahmen, ohne den ethisch verantwortliches individuelles
wie gesellschaftliches Handeln unter den komplexen Bedingungen der Welt von heute
und morgen nicht möglich ist und ohne den die Gesellschaft auseinanderfällt. Meine Absicht
ist dabei, Erörterungsebenen anzubieten, die aus freimaurerischem Wertbewusstsein
hervorgehen, ohne die für politisches Entscheiden und Handeln erforderlichen inhaltlichen
Auffüllungen vorzunehmen. Denn diese müssen dem Diskurs und der individuellen Entscheidung
vorbehalten sein.
179
»Von Gott und der Religion« –
Zum Religionsdiskurs in der deutschen
Freimaurerei
1. Der Religionsdiskurs in historischer Perspektive
1.1 Vorbemerkung
In seinem im Jahr 2009 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Roman »Der Himmel ist
kein Ort« erzählt der Autor Dieter Wellershoff von zwei evangelischen Pastoren, die sich
in der Pause einer Akademietagung beim Spaziergang unterhalten. »Neulich habe ich einen
geistvollen Witz gehört«, sagt der eine, »ein Verstorbener, der gerade in den Himmel kommt,
bittet Gott, ihm eine einzige Frage stellen zu dürfen, die er auf Erden nicht beantworten
konnte: ›Welche Religion ist eigentlich die richtige?‹ Gott antwortet: ›Das weiß ich nicht. Ich
bin nicht religiös.‹«1
Die Freimaurer dagegen wussten immer gut Bescheid über die religiösen Dinge, und
sie haben stets mit ihren Mitbrüdern, mit der Öffentlichkeit und mit den Institutionen
der Religion über ihr Religionsverständnis kommuniziert. Und so begleitet der religiöse
Diskurs mit all seinen unterschiedlichen Feldern, Themen und Akteuren die Geschichte
der Freimaurerei von Beginn an bis in unsere Tage, ja man kann sagen, dass der religiöse
Diskurs der zentrale Diskurs der Freimaurerei gewesen ist und weithin das Denken und die
Kommunikation der Freimaurer bestimmt hat. Allerdings nie grenzenlos und ungehemmt,
denn weil das Thema Religion nicht nur wichtig, sondern auch brisant ist, empfahlen die
Väter der modernen Freimaurerei bekanntlich schon früh, spätestens mit den »Alten Pflichten
« von 1723, zurückhaltend und tolerant damit umzugehen und vor allem in der Loge
nicht über Religion zu streiten.
Meine Skizzen zum masonischen Religionsdiskurs – und um mehr als um Skizzen
kann es sich nicht handeln – haben zwei Teile. Während sich der erste mit historischen
Perspektiven beschäftigt, behandelt der zweite Aspekte der Gegenwart, wobei auch auf die
Relevanz des religiösen Diskurses für die freimaurerische Praxis der deutschen Großlogen
eingegangen werden soll.
1.2 Warum religiöse Diskurse?
Die Frage, warum religiöse Diskurse von so großer Bedeutung für die Freimaurerei sind,
lässt sich nur aus historischer Perspektive beantworten. Von Anfang an ergab sich für die
Freimaurerei bereits dadurch ein auch auf Religion bezogener Erörterungs- und Definitionsbedarf,
dass sie Formen, Zeichen und Riten des Steinmetzhandwerks im Vollzug des historischen
»crossovers« von der Maurerei der »Stonemasons« zur Freimaurerei der »Gentleman-
1 Wellershoff, Dieter: Der Himmel ist kein Ort, Köln 2009, S. 250.
180
Masons« auf teils ethisch-soziale, teils religiöse Kontexte übertrug.2 Bei dieser Selbstthematisierung
musste das Verhältnis zur Religion schon deshalb eine vorrangige Rolle spielen, weil
die Steinmetz-Korporationen, von denen sich die Freimaurerei herleitete, in hohem Maße
religiös – konkret: christlich – eingebundene Institutionen gewesen sind.
Dieser gleichsam »ontologische« Begründungsbedarf der Freimaurerei und ihres Verhältnisses
zur Religion wurde bald doppelt verstärkt.
Einmal machten die schon früh einsetzenden Angriffe von außen begründete Apologien
erforderlich, in denen es vorrangig um religiöse Fragen ging. Bereits 1698 warnte in
London ein Pamphlet »alle gottgefälligen Menschen, dass die, die Freimaurer genannt werden,
eine teuflische Sekte darstellen, die im Geheimen Eide abfordert und der Antichrist
ist«.3 Offenbar wurde die Freimaurerei bereits im Bewusstsein früher Zeitgenossen in einer
gewissen Distanz zum kirchlich etablierten Christentum gesehen und aus christlicher Sicht
nicht nur aufgrund ihrer besonderen Gruppenstruktur und der damit verbundenen Arkandisziplin,
sondern auch wegen der ihr unterstellten kirchenfernen Religiosität kritisiert.
Die immer wieder zitierte Charakterisierung des Freimaurers in den »Alten Pflichten«
– »Wenn er seine Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner noch
ein bindungsloser Freigeist sein« –, diente neben der Identitätsbestimmung ebenso der
Abwehr von Angriffen wie der Mitte des 18. Jahrhunderts ausdrücklich als »Apologie des
Freimaurerordens« bezeichnete, zuerst in französischer und dann in englischer Sprache
veröffentlichte Text4, in dem die Freimaurerei als strikt christlich dargestellt wird und der
Autor gleich zu Beginn zum ersten und in seiner Sicht wesentlichsten Einwand, »dass der
Freimaurerorden gegen Religion im allgemeinen gerichtet sei; oder dass er zumindest eine
christliche Konfession auf den Trümmern aller anderen aufzurichten versuche«, folgendermaßen
Stellung bezieht:
»Der erste Einwand scheint zwei unterschiedliche Punkte zu umfassen; da aber die meisten
der Argumente für beide gleich ausfallen, habe ich mich dafür entschieden, sie nicht voneinander
zu trennen.
1. Wir vermeiden sorgfältig, Atheisten oder Deisten zum Orden zuzulassen, (und wir versuchen)
soweit es möglich ist, in einem Kandidaten derartige Auffassungen zu entdecken
oder in seinem Verhalten Anzeichen auszumachen, dass er derartigen Prinzipien zuneigt.
2. Der Orden lässt nur Christen zu. Jenseits der Grenzen der christlichen Kirche kann und
darf niemand akzeptiert werden. Juden, Mohammedaner und Heiden sind üblicherweise
als Ungläubige ausgeschlossen.
3. Alle christlichen Gemeinschaften haben gleiche Rechte im Orden und sind ohne jeden
Unterschied zugelassen: Dies ist die wohlbegründete Wahrheit, unterstützt durch unsere
dauernde Praxis und niemand wird sie verneinen.«
2 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239, hier insbesondere S. 229.
3 Nach Neugebauer-Wölk, Monika: »… You shall not reveal any part of what you shall hear or see …«. Geheimnis
und Öffentlichkeit in masonischen Systemen des 18. Jahrhunderts, in: Quatuor Coronati Jahrbuch
für Freimaurerforschung, Nr. 43/2004, S. 279–294, hier S. 280.
4 Apology for the Order of Free Masons by N. M. N. (Author) and Henry W. Thorpe (Translator),
Whitefish/
MT 2004, S. 2–8 (eigene Übersetzung).
181
Zur Abwehr äußerer Angriffe kamen bald innere Auseinandersetzungen hinzu, mit denen
um die »echte und eigentliche« Form der Freimaurerei gerungen wurde. Für die Freimaurerei
waren zwar immer bestimmte Grundelemente konstitutiv5, die über Länder und Zeiten
hinweg dieselben blieben, und ich nenne noch einmal in aller Kürze: (1) die abgeschlossene,
durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische Gruppe, (2) den initiatischen
Charakter der Rituale, (3) die der Bauhüttenüberlieferung entstammende Bausymbolik,
die später – insbesondere mit der Schaffung von Hochgradsystemen – ins Hermetisch-
Esoterische erweitert und durch Rittersymbolik ergänzt wurde, sowie (4) den Kanon
von Werten und religiösen Orientierungen, der um unterschiedliche, teils aufklärerisch-humanitär
teils christlich-esoterisch geprägte Begrifflichkeiten kreiste.
Die genannten übereinstimmenden Elemente erwiesen sich aber schon früh als unterschiedlich
versteh- und ausgestaltbar.6 Nicht zuletzt der freimaurerische Wert- und Orientierungskanon
war inhaltlich von Anfang an flexibel interpretierbar, vor allem in seiner
Bedeutung für die politisch-gesellschaftlichen und philosophisch-religiösen Kontexte, innerhalb
deren sich Logen und Logensysteme definierten. Unterschiedliche Konzepte – etwa
hinsichtlich der Frage, ob Freimaurerei einen ethisch orientierten Bund, ein »System of Morality
« oder einen religiösen Orden darstelle oder ob ausschließlich Christen oder alle Gott
bekennenden Menschen in den Bund aufgenommen werden sollten – wirkten auf Inhalt
und Form der Rituale zurück, was dann wiederum Denken und Diskurse zu bestimmten
»Lehrarten« der Freimaurerei verdichtete und ihnen Kontinuität verlieh. Es ist zwar richtig,
dass Symbole und Rituale in ihrer nunmehr drei Jahrhunderte überspannenden Geschichte
die besonderen Merkmale der Freimaurerei sind, die sie von anderen ethisch-geselligen
Assoziationen unterscheidbar machten, aber Symbole und Rituale bestimmten nicht, oder
zumindest nur zum Teil, die konzeptionellen Inhalte der Freimaurerei, die sich von System
zu System, ja oft von Loge zu Loge unterschieden, und die oft entsprechend der jeweils dominierenden
ideologischen Grundlage und Interessenstruktur eine neue symbolisch-rituelle
Fassung erhielten.
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Freimaurerei lassen sich
einmal auf Faktoren zurückführen, die mehr außerhalb als innerhalb der Freimaurerei
lokalisiert waren, jedoch nachhaltig auf den Entwicklungsprozess des Bundes, seine Dynamik
und seine Differenzierungen zurückwirkten, wie politisches Umfeld, Zeitgeist und
gesellschaftliche Strukturen. Sie waren aber auch darauf zurückzuführen, dass es auf dem
Hintergrund dieser Einflussfaktoren und Entwicklungsmilieus durchaus unterschiedliche
individuelle Motivationen gab, dem Freimaurerbund beizutreten: Religiöse, weltanschaulich-
philosophische, soziale und politische Motive vermischten sich bei dem nach 1717
einsetzenden »Run« auf das Erfolgsmodell Freimaurerei. Viele suchten, aber die meisten
von ihnen suchten immer auch etwas jeweils anderes.
Resultat waren zahlreiche Formen und Typen von Freimaurerei, und so taugte die seit
Kaiser Friedrichs III. Tagen vor allem in Deutschland populär gewordene Formel: »Es gibt
nur eine Freimaurerei« von Anfang an nicht zur Analyse, und sie sollte sich später – bis in
5 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer, in: Klöcker, Michael/Tworuschka, Udo: Handbuch
der Religionen, 21. Ergänzungslieferung 2009 (Juli), IX – 20, S. 4–10.
6 Vgl. Neugebauer-Wölk, Monika: Zur Einführung, in: Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius
Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. XI–XVIII, hier S. XVIII.
182
die Gründungsphase der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD) hinein – auch
als Grundlage fragwürdiger strategischer Konzepte erweisen.
1.3 Vom 18. zum 19. Jahrhundert
Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782 war ein letzter, umfassender Versuch,
Ordnung in der deutschen Freimaurerei zu schaffen und das System der »Strikten Observanz
« auf eine neue, tragfähige Grundlage zu stellen. Zugleich bot der Konvent ein Beispiel
für einen auf hoher gesellschaftlicher Ebene geführten religiösen Diskurs, an dem gleichermaßen
Protestanten wie Katholiken beteiligt waren und wie er danach in der Freimaurerei
nicht wieder zustande kommen sollte.
Mit Ludwig Hammermayer lassen sich drei Hauptgruppen von Konventsteilnehmern identifizieren,
von denen zwei ganz dezidiert von einem religiösen Verständnis von Freimaurerei
ausgingen:7
1. Die Anhänger sehr verschiedener hermetisch-alchymistischer Traditionen, die grundsätzlich
am maurerischen Templerorden festhalten und ihn höchstens modifizieren und modernisieren
wollten.
2. Die Anhänger des mystisch-martinistischen Lyoner Systems, angeführt durch Herzog Ferdinand,
Prinz Karl von Hessen und Jean Baptiste Willermoz.
3. Die Anhänger von Aufklärung und Rationalismus mit Ditfurth, Bode und von Kortum
aus Warschau als wichtigsten Vertretern und Adolph Freiherr Knigge als nachhaltig wirkende
Hintergrundperson. In dieser Gruppe spielten auch Illuminaten eine bedeutsame
Rolle.
Hammermayer hat die Ergebnisse des Konvents und insbesondere die Bedeutung des »Systems
der wohltätigen Ritter« folgendermaßen zusammengefasst:
»(Nach Wilhelmsbad sah) der Orden seine wahre Aufgabe in der Vollendung des
Christentums auf dem Wege esoterischer, mystisch-spiritualistisch-martinistischer
Freimaurerei. In der Lehre Saint-Martins wähnte er den Schlüssel zu vertiefter Erkenntnis
Gottes, seiner menschlichen wie dinglichen Schöpfung – und nicht zuletzt
zum Wiedergewinn der prä-existenten Harmonie und der ihr innewohnenden übersinnlichen
Kräfte gefunden. Diesem dominierenden Martinismus verbanden sich im
Wilhelmsbader System mystisch-pietistische und theosophische Einflüsse aus den
maurerischen Systemen eines Haugwitz und der Schwedischen Logen, (die bereits
in den Johannesgrad-Ritualen ersten Niederschlag fanden). Dass ein solches maurerisches
System vielen fremd und unzugänglich, ja unheimlich erscheinen musste und
manchen Adepten überforderte, verwundert nicht.«8
Die deutsche Freimaurerei ist nach dem Konvent von Wilhelmsbad jedenfalls nicht dem
Weg des Lyoner Systems gefolgt, und sie konnte auch keine andere gemeinsame Grundla-
7 Hammermayer, Ludwig: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782, Heidelberg 1980, S. 37f.
8 Ebenda, S. 86f.
183
ge finden. Insofern war der Konvent gescheitert. Wilhelmsbad brachte jedoch aus heutiger
Sicht einen erheblichen Erkenntnisgewinn. Wurden doch die Probleme und Strömungen
der deutschen und kontinentaleuropäischen Freimaurerei vor der Wende zum 19. Jahrhundert
sowie wichtige Tendenzen zukünftiger Entwicklungen klar erkennbar.
Für das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Religion bzw. den religiösen Diskurs
waren zwei Umstände von besonderer Bedeutung: Einmal verfestigten sich in Deutschland
tief verwurzelte, bis heute weiterwirkende konzeptionelle und organisatorische Unterschiede
zwischen »humanitärer« und »christlicher« Freimaurerei,9 zum anderen änderte
sich die konfessionelle Struktur der deutschen Freimaurerei, weil die Zahl katholischer
Mitglieder rasch und gründlich zurückging.
Jetzt entstand die für die Logen der klassischen Bürgerperiode vom Vormärz bis zum
Ersten Weltkrieg typische Zivilreligion, die sich als kirchenfern, undogmatisch, »gebildet«
und doch religiös und in unterschiedlichem Ausmaß auch als christlich verstand.10
Eine solche »Religion der Bürger« bestimmte das Selbstverständnis wie die kulturellen
Praktiken der Logen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Zivilreligion der
Logen, die »Religion der Menschheit« – dies und das folgende in Übereinstimmung mit
der überzeugenden Analyse Stefan Ludwig Hoffmanns11 –, stand nicht, wie die Freimaurer
glaubten, über den Konfessionen, sondern war im Kern protestantisch. Dies zeigte sich
nicht nur am Antikatholizismus der Freimaurer, der vielen Logenreden eigen war, und an
den gleichzeitig erfolgenden Zurückweisungen der Kritik von Seiten der Kirchen, vor allem
der katholischen. Es zeigte sich auch und insbesondere am logen- und großlogeninternen
Diskurs über die Aufnahme von Juden, die man maurerischen Prinzipien entsprechend
doch eigentlich als Brüder in der Loge hätte akzeptieren sollen und die man doch selbst
bei den humanitären Großlogen nur zögerlich akzeptieren wollte.
Johann Caspar Bluntschli,12 Staats- und Völkerrechtler von großer Bedeutung, war führender
Protestant und als engagierter Freimaurer einer der einflussreichsten Teilnehmer
am Religionsdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bluntschli war 1838 in
Zürich Freimaurer geworden (Loge »Modestia cum libertate«) und gehörte in seiner Zeit
als Heidelberger Hochschullehrer der Loge »Ruprecht zu den fünf Rosen« als Mitglied
an, deren Stuhlmeister er war. Von 1872 bis 1878 war er Großmeister der Großloge »Zur
Sonne« in Bayreuth und maßgeblich an der Gestaltung der Großlogenrituale beteiligt.
Aufsehen erregte sein offenes Schreiben an Papst Pius IX. im Jahre 1865, in dem er die erneute
Verdammung der Freimaurerei (Enzyklika »Quanta cura« mit beigefügtem »Syllabus
errorum«) zurückwies. Bluntschli war Anwalt der Vereinigung der deutschen Freimaurer in
einer gemeinsamen Großloge, fand jedoch mit einem entsprechenden Verfassungsentwurf
auf dem Großlogentag von 1878 keine Zustimmung. Aus Enttäuschung darüber stellte er
danach seine freimaurerischen Aktivitäten weitgehend ein.
9 Auf diese Unterschiede ist im zweiten Teil dieses Beitrags noch einmal ausführlicher zurückzukommen.
10 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte, Bd. 1, München 1999, S. 519.
11 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft
1840–1918, Göttingen 2000, S. 256–266.
12 Zu Bluntschli unter Berücksichtigung seines freimaurerischen und protestantischen Engagements zuletzt
Metzner, Carolin: Johann Caspar Bluntschli: Leben, Zeitgeschichte und Kirchenpolitik 1808–1881,
Frankfurt/Main 2009.
184
Bluntschli hat das Grundprinzip der »Religiosität der Bürger-Freimaurer« folgendermaßen
definiert:13
»Sie hält fest an dem, allen christlichen und nichtchristlichen Völkern gemeinsamen
Glauben an einen persönlichen Gott, der dem Maurer vorzüglich als ein schaffender
und erhaltender Künstler, als Erbauer des Weltgebäudes nahe tritt, und prägt diesen
Gedanken in kultusartiger Form aus.«
Eine solche Religiosität stehe über den Konfessionen, denn – so wieder Bluntschli –:
»Die maurerische Moral betont überall die Würde der Menschennatur und mahnt
zur Bruderliebe … Eine Loge kann daher konsequent keinem human Andersgläubigen
die Bruderhand versagen, wenn gleich sie der christlichen Religion als der ihres
mütterlichen Bodens am nächsten steht.«
Die individuelle Tugend der Bürger, ihre Moralität schien nicht ablösbar vom religiösen
Glauben zu sein. »Wer sich nur Menschen und nicht Gott verantwortlich fühlt, kann kein
sittlicher Mensch sein«, hieß es in einer Logenrede,14 und »als die ›sittlichste‹ Form der Religiosität
galt wie selbstverständlich der liberale Protestantismus«.15
Atheismus galt als für Freimaurer ausgeschlossen.16 Bluntschli selbst trug in starkem
Maße dazu bei, dass der Glaube an einen nicht weiter bestimmten Gott als Aufnahmebedingung
aller deutschen Logen in den von ihm mitverfassten »Allgemeinen Grundsätzen«
des Großlogentages von 1878 festgeschrieben wurde. Freimaurerlogen, welche die Existenz
Gottes verleugneten, sollten nicht als reguläre Loge anerkannt und die Beziehungen zum
»Grand Orient de France«, der sich im Vorjahr zum Verzicht auf das Symbol des »Großen
Baumeisters« entschlossen hatte, abgebrochen werden. Die Trennungslinie zwischen einer
christlich-protestantischen, wenn auch teilweise Nicht-Christen offenen Logenwelt auf der
einen und einer Atheismus als persönliche Weltanschauung zulassenden Freimaurerei auf
der anderen Seite blieb für längere Zeit scharf gezogen.
Die Auffassung, Sittlichkeit bedürfe der religiösen Rückbindung, findet sich auch in
den Beiträgen eines anderen prominenten Teilnehmers am religiösen Diskurs deutscher
Freimaurer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, des bedeutenden Berliner Agrarwissenschaftlers
Hermann Settegast. Settegast war von 1884 bis 1889 zugeordneter Großmeister
der Großen Loge Royal York, wurde 1889 zum Großmeister gewählt, trat aber ein Jahr
später zurück, weil seine »Vorschläge zur Umgestaltung des Systems der großen Loge, die
Verzichtleistung auf maurerische Hochgrade … sowie (seine) Anträge bezüglich ungerechtfertigter
Zurückweisung von Suchenden nicht-christlicher Religion abgelehnt wurden«.17
13 Bluntschli, Johann Caspar: Freimaurer, in: Bluntschli, Johann Caspar/Brater, Karl (Hrsg.): Deutsches
Staatswörterbuch, Bd. 3, Stuttgart 1858, S. 745–755, hier S. 753, zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig:
a.a.O., S. 257f.
14 Zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 258.
15 Ebenda.
16 Dies und das Folgende wiederum nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 261f.
17 Settegast, Hermann: Die Deutsche Freimaurerei. Ihre Grundlagen, ihre Ziele für Freimaurer und Nichtfreimaurer,
Berlin 1892/1919, S. 9.
185
Für Settegast ist
»die Idee der Sittlichkeit … mit der Gottesidee untrennbar verbunden. Da der Denkende
seine Beziehungen zu Gott, seine Abhängigkeit von ihm nicht lösen, d.h. ohne
religiöses Bewußtsein menschenwürdig nicht leben kann, so ist er in seiner gesamten
Lebensanschauung und Lebensführung dem Gebot der Sittlichkeit untertan. Aber
die Religion ist nicht die Kirche und fesselt den Bekenner der Sittlichkeit so wenig an
einen positiven kirchlich-religiösen Glauben, dass ihm in Unabhängigkeit von diesem
und von allen Besonderheiten kirchlicher Lehrarten, Lehrmeinungen und -ordnungen
auf dem Boden sittlichen Fürwahrhaltens selbständige Bewegung gestattet,
d.h. unantastbare sittliche bzw. Gewissensfreiheit verbürgt ist«.18
Andererseits prangerte Settegast in scharfen Worten die Praxis der Großen Loge Royal York
an, trotz formaler Öffnung in der Großlogenverfassung Juden de facto aus Logen der Großloge
herauszuhalten. Alfred Oehlke berichtet in einer biographischen Skizze über Settegasts
Kritik an der vorherrschenden Kugelungspraxis:
»Nach den damals bestehenden Vorschriften der Großloge Royal York war die Abstimmung
über Suchende eine absolut geheime. Eine bis drei ungünstige Stimmen
mußten zwar begründet werden, mehr als drei aber wiesen den Suchenden ohne weiteres
ab. Bei der gerade in jener Zeit zur Herrschaft gelangten antisemitischen Strömung
hatte sich der Brauch herausgebildet, Suchende jüdischen Glaubens systematisch
dadurch abzuweisen, daß ihnen mehr als drei schwarze Kugeln geworfen wurden.
Settegast erblickte in dieser regelmäßigen Übung einen Verstoß nicht nur gegen
das Wesen der Freimaurerei, sondern auch gegen eins der Grundgesetze eben jener
Großloge selbst.«19
Settegast war wie Bluntschli evangelischer Christ, doch er betonte gleichzeitig, »dass es
für die Freimaurerei auf den Unterschied zwischen Judentum und Christentum nicht ankomme,
denn die Grundgedanken, die die Freimaurerei zur Voraussetzung haben, seien an
kein religiöses Bekenntnis geknüpft; in dem Judentum aber seien sie, wie sich nachweisen
lasse, ganz ausdrücklich vorhanden«.20
1.4 Neue Grenzziehungen im 20. Jahrhundert
Im Verlauf des 20. Jahrhundert zeichneten sich allerdings neue Grenzziehungen ab. Zunächst
entstand mit dem »Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne« (FzaS) auch in Deutschland
ein nicht religiös gebundenes, säkular-liberales Verständnis von Freimaurerei, in dem
insbesondere der postulierte strikte Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und moralischem
Handeln infrage gestellt wurde. Dabei hielt der FzaS an der symbolisch-rituellen
Ausrichtung der Freimaurerei fest, und seine in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
18 Ebenda, S. 32.
19 Oehle, Alfred: Hermann Settegast. Ein Lebensbild, in: Settegast, Hermann: Die Deutsche Freimaurerei.
Ihre Grundlagen, a.a.O., S. 17f.
20 Ebenda, S. 23f.
186
entstandenen Rituale sind sowohl von der ethisch-aufklärerischen Ausrichtung der Freimaurerei
des FzaS als auch von einer breit ausgestalteten kosmologischen Spiritualität geprägt.
Auch hier fand sich mit Rudolph Penzig ein überragender Diskursteilnehmer.21 In
seinem Mitte der 1920er Jahre veröffentlichten »Freimaurerlehrbuch« führt Penzig auf die
Frage »Verlangt nicht aber gerade das freimaurerische Ziel sittlicher Willensbildung nach
einer religiösen Begründung der Sittlichkeit?« das Folgende aus:
»Diese Frage sollte seit Spinozas und Kants Lebenswerk unmöglich geworden sein.
Daß die Sittlichkeit keiner religiösen Begründung bedarf, eine solche vielmehr mit
dem Lohn- und Strafbegriff die wahre Sittlichkeit gefährdet, dass nur das Bedürfnis
nach einer überweltlichen Vollzugskraft rechtlichen und sittlichen Vorschriften die
Weihe des Heiligen verlieh, dass endlich eine reinmenschlich-natürliche Sittenlehre
längst als lediglich auf dem Gemeinschaftswillen der Menschheit anerkannt ist, kann
selbst von den Vertretern der Gegenseite nicht mehr bestritten werden. Die auf dem
Boden des Menschheitsgedankens ruhende Freimaurerei kann für ihr Erziehungswerk
nur eine von allen Glaubensmeinungen und jenseitigen Voraussetzungen freie
rein-menschliche Sittenlehre brauchen.«22
In Abwehr der dem FzaS entgegengehaltenen Vorwürfe, religiöse Bekenntnisse und Freimaurerei
schlössen sich in seiner Sicht aus, bemerkt Penzig:
»Der Freimaurerbund … fordert seinerseits keinerlei Bekenntnis, auch nicht das des
Unglaubens. Allerdings macht er dabei die Voraussetzung, dass der Fromme noch
ein Suchender sei, nicht ein Angekommener, ein Strebender, nicht ein Fertiger, ein
Hungernder, nicht ein Satter! Schätzt doch der Freimaurer mehr das Forschen nach
der Wahrheit, als ihren Besitz, den Willen zum Besserwerden mehr als die unantastbare
Heiligkeit, kurz den Weg höher als das Ziel.«23
Und an anderer Stelle konstatiert Penzig zum Nebeneinander einer religiös gebundenen und
einer religiös ungebundenen, liberalen Freimaurerei:
»Wie ein Strom von den verschiedensten Quellen und Nebenflüssen aus Himmelshöhen
und Erdentiefen gespeist wird, so mag auch der Wille zur Vervollkommnung
der Menschheit seine lebendige Kraft aus religiösen oder humanen, göttlichen oder
menschlichen Beweggründen schöpfen – dass er da sei und wirke und die ganze
Menschheit endlich erfülle, – darauf kommt es an.«24
21 Dr. Rudolph Penzig war von 1919 bis 1926 Großmeister des FzaS. Er gehörte seit 1903 zum linken Flügel
der Fortschrittspartei und ab 1917 zur SPD. Penzig war in Berlin-Charlottenburg ehrenamtlicher Stadtrat
und von Beruf Moralpädagoge. Er wirkte u.a. leitend im Bruno-Bund, in der Deutschen Gesellschaft
für ethische Kultur, im Deutschen Bund für weltliche Schule und Moralunterricht und im Vorstand des
Bundes freireligiöser Gemeinden.
22 Penzig, Rudolph: Freimaurer-Lehrbuch, Oldenburg o.J., S. 17.
23 Ebenda, S. 18.
24 Ebenda, S. 19.
187
Ein eigentlicher, von gegenseitiger Achtung und Toleranz bestimmter Diskurs um die Position
des FzaS ist nicht geführt worden. Bedauerlicherweise, so muss man sagen, vor allem
im Hinblick auf die späteren weltanschaulich-religiösen Annäherungen großer Teile der
deutschen Freimaurerei an den Nationalsozialismus. Es blieb beim Diktum der Irregularität.
Und so ist es nicht ohne historische Ironie, dass sich heute alle deutschen Großlogen,
auch die ehemals strikt ablehnenden christlichen Großlogen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit
gern mit den Namen der FzaS-Brüder Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky schmücken
und insbesondere deren ablehnende, ja widerständige Einstellung zum Nationalsozialismus
hervorheben. Ist das nun Gedankenlosigkeit, ist es schlicht peinliche Anmaßung, ist es eine
– zumindest implizite – Kritik an der ablehnenden Haltung gegenüber dem FzaS in den
1920er Jahren oder ist es Ausdruck der Überzeugung, dass spätestens im ewigen Osten die
Scheidung regulär – irregulär nicht mehr gilt? Die deutschen Freimaurer sollten diese Fragen
in ihren künftigen Diskursen nicht ausschließen.
Neue Trennungslinien traten zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Verbot der Freimaurerei
Mitte der 1930er Jahre in Erscheinung. Zunächst kam es zu einer wechselseitigen
Verschärfung des Tons zwischen deutscher – insbesondere altpreußischer Freimaurerei –
und der englisch-amerikanischen Freimaurerei. Auf der Seite der »altpreußischen« Freimaurerei
wurde die Verbindlichkeit der »Alten Pflichten« abgelehnt und den englischen
Freimaurern Oberflächlichkeit und Fehlen religiöser Tiefe vorgehalten. Umgekehrt gab
es seitens der »English-speaking Masonry« prinzipielle Abgrenzungen und Verurteilungen
gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei, deren Regularität in Zweifel gezogen wurde.25
Gleichzeitig vertiefte sich die Spannung zwischen altpreußischer und humanitärer Freimaurerei
in Deutschland. Es wurde konzeptionell heftig gestritten, wobei die Vermischung nationaler
mit religiös-christlicher Rhetorik besonders kennzeichnend war. Auf altpreußischer
Seite kam es zu einer zunehmenden Identifizierung mit altgermanischer Mystik, die schließlich
auch zu einer Arisierung der Rituale führte, während gleichzeitig eine Anlehnung an
die Glaubenspositionen der »deutschen Christen« des Reichsbischofs Müller empfohlen
wurde.26
Vorangetrieben wurde diese Entwicklung vor allem durch August Horneffer, den
Schriftführer, Archivar und De-facto-Großsekretär der »Großen Loge von Preußen, gen.
zur Freundschaft«. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte August Horneffer gemeinsam
mit seinem Bruder Ernst eine mystisch-religiöse Auffassung der Freimaurerei vertreten,
die zunächst kaum Akzeptanz fand.27 Im Verlauf der 1920er Jahre näherte sich Horneffer
immer mehr einer »ariosophen« Esoterik an, wie sie von Guido von List und Jörg Lanz
von Liebenfels entwickelt und vertreten wurde, die auch Hitler nicht unwesentlich beeinflussten.
Konsequenterweise hieß es dann im Juni 1933 an der Tafel des zur Sonnwendfeier
25 The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164. Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas
verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb der deutschen Freimaurerei und
die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg, in diesem Band, S. 58.
26 Ausführlich hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung
innerhalb der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem
Zweiten Weltkrieg, in diesem Band, S. 51–87.
27 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 275.
188
gewordenen Johannisfestes als Quasi-Tischgebet: »Sonnenwende – Schicksalswende! Ständig
nesteln Nornenhände …«28
Gewiss: Verbot und Unterdrückung durch das NS-System haben die deutsche Freimaurerei
auf das Schwerste beschädigt, das Verbot hat freilich auch weitere Verbiegungen
und Anpassungen an das System verhindert, zu denen es – daran kann nach Lage der
historischen Fakten überhaupt kein Zweifel bestehen – zweifellos gekommen wäre. So war
das Ende von 1935 zugleich eine Rettung des Ansehens der Freimaurerei, ohne die es den
Neuaufbau nach 1945 nicht hätte geben können.
2. Der freimaurerische Religionsdiskurs der Gegenwart
2.1 Ängste und Besorgnisse
Und nun im zweiten Teil meiner Skizze: zum religiösen Diskurs in der deutschen Gegenwartsfreimaurerei.
Auch heute führen Brüder, Logen und Großlogen den religiösen Diskurs in Erklärungen,
in Zeitschriften (insbesondere die »Zirkelkorrespondenz« der Großen Landesloge
besteht zu einem großen Teil aus Beiträgen zum religiösen Diskurs) und auf ihren Internetseiten.
Es ist allerdings immer nur ein kleiner Anteil der deutschen Freimaurer, der sich
daran beteiligt. Was die einzelnen Freimaurer über religiöse Fragen denken und wie ihr
Verhältnis zu Kirche und Glauben beschaffen ist, gehört zu den der empirischen Forschung
bislang versperrten, persönlich-subjektiven freimaurerischen Geheimnissen – und vielleicht
ist das auch gut so!
Auch die Forschungsgesellschaft »Quatuor Coronati« beteiligt sich am religiösen Diskurs,
und zwar so intensiv, dass der eine oder andere meint, es sei inzwischen genug damit.
Genug weniger, weil die Ergebnisse der Gespräche wirklich zufriedenstellend wären, genug
vielmehr deshalb, weil sich zeigt, dass ein offen geführter religiöser Diskurs nicht nur Erkenntnisfortschritte,
sondern auch Risiken für Harmonie und Stabilität in der Bruderschaft
mit sich bringt. Des Öfteren scheinen Unklarheiten in Bezug auf das Verhältnis zwischen
Freimaurerei und Religion leichter zu ertragen zu sein als Deutlichkeit und Präzision in
den weltanschaulichen Positionen, was ja ein Nachdenken über Konsequenzen und klare
Stellungnahmen nahelegen, ja erforderlich machen würde.
Die heutigen Freimaurer scheinen aus vielen Gründen nicht so recht frei zu sein,
wirklich offen über Fragen der Religion im Kontext ihres Bundes zu sprechen. Während
die religiösen Diskurse der Theologen oft von erfrischender Schärfe und Eindeutigkeit in
den Positionen sind, verläuft der freimaurerische Religionsdiskurs einerseits merkwürdig
unscharf und gebremst, andererseits aber auch erregt, beleidigt und aggressiv, wozu er sich
dann oft in die zuweilen recht trübe Welt der masonischen Internetforen verlagert. Eine
Ausnahme machen allerdings meiner Beobachtung nach die Freimaurerinnen, denen oft
ein erfrischend direkter Umgang mit Tabus gelingt.
28 Ordensblatt, hrsg. vom Nationalen Christlichen Orden Friedrich der Große in Berlin, 1. Jg., Juli/August
1933, Nr. 3, S. 45.
189
Warum ist der religiöse Diskurs so schwierig?
Zu benennen ist insbesondere eine Reihe von Besorgnissen und Ängsten:
• Ängste vor einer Beschädigung der gewohnten und liebgewonnen weltanschaulich-religiösen
Heimat und – damit verbunden und daraus resultierend – Besorgnisse und Ängste
im Hinblick auf möglicherweise einsetzende Veränderungen von Ritual und Organisation.
Die empirische Soziologie beobachtet ja des Öfteren, dass besonders dann an tradierten
formalen Strukturen festgehalten wird, wenn die aus der Tradition überlieferten
Inhalte unscharf und instabil geworden sind.
• Dazu kommen Besorgnisse und Ängste im Hinblick auf Konflikte innerhalb der und zwischen
den Großlogen der VGLvD, müsste doch ein offener Religionsdiskurs gravierende
Unterschiede zwischen der ethisch-symbolisch orientierten GL A.F.u.A.M. und dem
christlichen Freimaurerorden zutage fördern, durch die die Harmonie, wenn im Extremfall
nicht gar Einheit und Bestand der VGLvD beschädigt werden könnten. (Ich komme
auf diesen Gesichtspunkt noch ausführlicher zurück.)
• Weiter zu erwähnen sind Auswirkungen der »Arkandisziplin«: Oft sind die Brüder Freimaurer
unsicher, was bei der Kommunikation mit Außenstehenden zum Ritual gesagt
werden darf bzw. soll und die Bemühungen der Großlogen, hierzu eine Klärung herbeizuführen,
reichen nicht aus. Wer das Ritual im Diskurs ausspart, kann freilich auch nicht
über dessen Beziehung zu Religion und Religiosität kommunizieren. Die Fähigkeit, gehaltvoll
über das Ritual zu sprechen und zugleich das »Kerngeheimnis« nicht preiszugeben,
ist unterentwickelt, zumal die Ergebnisse der neueren Ritualforschung, die hier
zu Kompetenz und Auskunftsfähigkeit verhelfen könnten, bis in die Spitzen der maurerischen
Hierarchien hinein weitgehend nicht zur Kenntnis genommen wurden. Ersatzweise
begnügt man sich dann zuweilen mit der Mitwirkung an fragwürdigen Fernsehfilmen
(besonders abschreckend: die ARD-Produktion »Tempel, Logen, Rituale«).
• Besonders groß sind die genannten Besorgnisse und Schwierigkeiten bei den Vertretern
höherer Gradsysteme, die fürchten, in einen von ihnen nicht gewünschten Diskurs innerhalb
und außerhalb des Bundes hineingezogen zu werden, nicht erwünscht, weil mit der
Erfordernis einer größeren Offenheit im Hinblick auf Struktur und Sinnhaftigkeit der
entsprechenden Systeme verbunden. (Weiter unten komme ich auch auf diesen Punkt zurück.)
• Dann gibt es – »natürlich« möchte man sagen – Besorgnisse und Ängste im Hinblick auf
drohende Infragestellungen der Regularität und einer nachfolgenden Intervention seitens
der Vereinigten Großloge von England.
• Schließlich bestehen Unsicherheiten im Hinblick auf die Frage, wie mit Agnostikern oder
gar Atheisten im Falle von Aufnahmeanträgen umzugehen ist, während es keine Schwierigkeiten
macht – ich wiederhole –, sich posthum mit ihnen und ihrem Freimaurer-Status
werbewirksam zu identifizieren (von Ossietzky, Tucholsky). Dabei könnte die Sache
doch ganz einfach sein, und Helga Widmann, die Großmeisterin der Frauengroßloge, hat
auf der Frankfurter QC-Arbeitstagung im März 2009 – während sich die auf dem Podium
versammelten Vertreter der Großlogen in schwammigen Unverbindlichkeiten gefielen –
nachdrücklich auf das auch in meiner Sicht hier allein Entscheidende hingewiesen: Ein
die Werte des Freimaurerbundes verneinender Nihilismus, nicht ein mit humanistischem
190
Denken und Handeln durchaus vereinbarer Atheismus oder Agnostizismus, ist das für einen
ethischen Bund unabdingbare Ausschlusskriterium.
2.2 Warum trotzdem Diskurse?
Warum ist der religiöse Diskurs trotz all dieser Besorgnisse und Unvollkommenheiten in der
deutschen Freimaurerei so lebendig und vielleicht auch so notwendig? – Ganz einfach aus
den prinzipiell gleichen Gründen wie von 1717 an:
• Es gilt, sich um die Bestimmung freimaurerischer Identität zu bemühen.
• Gegenüber mannigfaltigen Angriffen erweisen sich immer wieder Apologien als erforderlich.
• Die zunehmende Kommunikation mit Medien und Institutionen der Öffentlichkeit bedarf
der Auskunftsfähigkeit der Freimaurerei auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen
Freimaurerei, Religion und Kirchen.
• Unterscheidungen auch im Hinblick auf die »religiöse Frage« sind notwendig, um die jeweiligen
Besonderheiten der VGLvD-Großlogen deutlich zu machen.
Zunächst – wie es sich für eine Forschungsloge gehört – zur Frage, warum der religiöse Diskurs
der Gegenwart auch analytisch, d.h. als Gegenstand der Freimaurerforschung, interessant
ist.
Vor allem deshalb, weil der Religionsdiskurs, das hat ja auch die historische Reflexion
deutlich gemacht, wie kein anderer zeigt, welche Inhalte, welche rituellen Ausdrucksformen
und welche organisatorischen Strukturen für die Freimaurerei – im Unterschied zu anderen
gesellig-gesellschaftlichen Assoziationen – typisch sind. Daher das lebhafte Interesse auch in
der »externen«, der universitären Freimaurer-Forschung, sich gerade mit dem Religionsdiskurs
der Freimaurer zu beschäftigen. Beispiele unter vielen dafür sind Monika Neugebauer-
Wölks Studien zum Thema Freimaurerei und Esoterik oder Stefan-Ludwig Hoffmanns
zuvor ausgiebig zitierte Beschreibung einer spezifischen freimaurerischen Zivilregion in der
bürgerlichen Freimaurerei zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg.
Insbesondere an Hoffmanns Untersuchungen können dann auch analytische Fragen
für die Gegenwart angeschlossen werden, die nicht ohne praktische Konsequenzen bleiben
sollten. Hoffmann führt ja – wie zuvor aufgezeigt – den zivilreligiösen Charakter der
Freimaurerei in der klassischen Bürgerperiode auf eine weitgehende Integration der Brüder
Freimaurer in ein kirchlich gebundenes protestantisches Bürgertum zurück. Nun haben
sich inzwischen nicht nur die Struktur der Gesellschaft und ihre Kultur weitgehend geändert,
auch das religiöse Umfeld der Freimaurerei ist längst nicht mehr dasselbe wie in der
»klassischen« Bürgergesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Nur noch etwas mehr
als zwei Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung gehören in Deutschland einer
der christlichen Kirchen an, und nur die knappe Hälfte davon sind Protestanten und damit
Mitglieder der traditionellen Rekrutierungsgruppe der deutschen Freimaurerei. Gleichzeitig
ist auch bei formaler Kirchenzugehörigkeit das Ausmaß einer wirklichen Teilnahme an
kirchlichen Aktivitäten beträchtlich zurückgegangen.29
Was bedeuten die zuvor genannten Relationen für die Zielgruppe der Freimaurerei?
29 Hier ist an eine Bemerkung des zug. VGLvD-Großmeisters Bruno Schultze auf der Frankfurter QC-Tagung
vom März 2009 zu erinnern, die noch der Kirche angehörenden Freimaurer seien wohl zu 90 Prozent
»laue« Protestanten.
191
Zunächst kann aus ihnen schwerlich geschlossen werden, dass sich deshalb der Anteil
von nach Sinn und Wert suchenden »Freien Männern von gutem Ruf« in Deutschland
im gleichen Maße verringert hat wie die Zahl der traditionell »Gläubigen«, und die vielen
ethisch orientierten Männer, die von religiösen Bindungen im traditionellen Sinne frei,
doch zu Freundschaft fähig und für spirituelle Erfahrungen empfänglich sind, sollten doch
eigentlich ebenso willkommene »Suchende« sein wie seinerzeit der protestantische Christ.
Eine Freimaurerei, die als soziale, geistige und spirituelle Heimat von wertüberzeugten
Männern heute ebenso intensiv gesucht werden soll wie die Freimaurerei des 19. Jahrhunderts,
müsste allerdings erst einmal gründlich ihre religiöse Identität klären, vielleicht sogar
neu bestimmen. Denn es fragt sich doch sehr, ob eine Freimaurerei, die heutzutage attraktiv
sein will, identisch sein kann mit der bürgerlich-zivilreligiösen Freimaurerei, die nach
der Gärungszeit des 18. Jahrhunderts im Verlauf des 19. Jahrhunderts definiert, organisiert
und rituell gestaltet wurde und an der sich seitdem nicht allzu viel geändert hat.
Und eine weitere Frage ist damit zu verbinden: Warum stellt die Freimaurerei nach
außen immer wieder ihre ethischen Ziele heraus, ihren Charakter als »System of Morality«,
ihre Absicht, prinzipiell alle nach Sinn und Wert suchenden Menschen zu verbinden und
nicht nur Teile davon, wenn sie im Inneren so beharrlich an altem Denken, an überholten
Begründungen und zuweilen auch an überlebten Formen festhält?
Die Bindung von Moral an religiöse Überzeugungen wird mittlerweile ja nicht einmal
mehr von führenden katholischen Theologen für erforderlich gehalten. So heißt es etwa
bei Hans Küng:
»Aus dem Grundvertrauen kann auch ein Atheist ein echt menschliches, also humanes
und in diesem Sinn moralisches Leben führen … Auch Atheisten und Agnostiker
müssen folglich keineswegs Nihilisten, sondern können Humanisten und Moralisten
sein: ernsthaft um Humanität und Moralität bemüht.«30
»Grundvertrauen« bedeutet dabei für Küng ein grundsätzliches Ja zur Sinn- und Werthaftigkeit
der Realität, zu dem jeder Freimaurer fähig ist, dessen Denken und Handeln von der
Überzeugung getragen ist, dass es sich lohnt, für das Wohl der Menschen, ihr von gegenseitiger
Achtung bestimmtes Miteinander und eine sichere Zukunft der Welt zu wirken.
Im gleichen Sinne hatte Guido Groeger, Hochschullehrer, Psychotherapeut und Freimaurer,
auf der Frühjahrsarbeitstagung der Forschungsloge »Quatuor Coronati« in Burg
bei Magdeburg im Jahre 1996 vermerkt:
»Das Thema Religion ist in unserm Bund heftig umstritten … Wenn gefordert wird,
›Freimaurer müssen an ein höchstes Wesen (supreme being) glauben‹, dann ist allen
areligiösen freien Männern von gutem Ruf der Zugang zu uns verschlossen … Die
in Entwicklung begriffene neue Weltschau kann als Bedrohung erlebt werden, aber
auch als ein Anstoß zur Übernahme der vollen Verantwortung für den Fortbestand
des menschlichen Lebens auf dieser Erde. Ob dies mit oder ohne Glauben an ein
höchstes Wesen geschieht, unterliegt der Entscheidung des Einzelnen. Werden wir es
30 Küng, Hans: Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 1983, S. 523.
192
schaffen, unsere Logen für beide Fraktionen zu öffnen? Verbunden miteinander bleiben
wir durch den Bau am Tempel der Humanität und unsere Rituale.«31
Guido Groeger hatte das Thema »Freimaurerei und Religion« im Rahmen eines Beitrags zur
»Identität« aufgegriffen und damit ein wichtiges Stichwort gegeben.
2.3 Identitätsprobleme
Die Frage nach der freimaurerischen Identität von heute ist in der Tat dringlich, und die
deutschen Freimaurer sollten sich um Antworten darauf bemühen. Antworten sind nicht
nur wegen des erheblichen Klärungsbedarfs innerhalb der Freimaurerei erforderlich. Sie sind
dringlich auch wegen der zahlreichen Fragen, die aus dem gesellschaftlichen Umfeld der
Freimaurerei gestellt werden, aus der Öffentlichkeit, den Medien, den Kirchen. Auf diese
Fragen, von denen wir ja wünschen, dass sie an uns gestellt werden, können die Freimaurer
allerdings nur dann antworten, wenn sie wissen, wer, was und wie sie sind.
Ein praktisches Beispiel: Auf die Frage, ob Dan Browns neues Buch »Das verlorene Symbol«
vorteilhaft oder schädlich für die Freimaurerei ist, müsste doch zunächst erst einmal zurückgefragt
werden: für was für eine Freimaurerei eigentlich? Eine ethische, eine bürgerlich-konventionelle
oder eine esoterische Freimaurerei?
Nichts zuletzt aufgrund der Stagnation der Mitgliederzahlen hierzulande und eines
weltweit gar dramatischen Absturzes der Mitgliedszahlen – von sechs auf unter drei Millionen
Freimaurer innerhalb von fünf Jahrzehnten – ist zu fragen, ob diese Entwicklung
nicht zuletzt auf ein in der Gesellschaft nur allzu deutlich spürbares Identitätsdefizit des
Bundes zurückzuführen ist, und wenn dies so ist, was diese Bestandshalbierung mit dem
Verhältnis zwischen Freimaurerei und Religion zu tun hat?
Die Masonic Service Association of North America hat sich des Problems in einer
hochinteressanten, hierzulande allerdings kaum wahrgenommenen Studie mit dem Titel »It’s
about time! Moving masonry into the 21st Century« recht überzeugend angenommen.32
Die Studie geht von einem doppelten Problem der Freimaurerei aus: »Loss of masonic
identity« und »Lack of energy invested in masonry« und antwortet dann auf die Frage:
»How does the public perceive Freemasonry today?« auf folgende Weise
»We believe that the public’s perception and opinion of Freemasonry can be summarized
briefly in the following ways:
1. Confused. Are the Masons a fraternity, a religious organization or an alternative
religion?
2. Mistaken. Only grandfathers could be in such an old-fashioned organization as
Freemasonry.
3. Oblivious. People are not even aware Masonry still exists.«
31 Groeger, Guido: Identität. Aspekte und Fragen, Eingangsreferat auf der Arbeitstagung der QC in Burg
b. Magdeburg, 9. März 1996, unveröffentlichtes Manuskript, S. 13f.
32 http://www.msana.com/aboutime_foreword.asp.
193
Gewiss, US-amerikanische Verhältnisse sind keine deutschen Verhältnisse. Gravierende Unterschiede
sind nicht zu übersehen. Und doch gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen
im Hinblick auf Problemlagen und Strukturdefizite, von denen die Freimaurerei hierzulande
lernen könnte.
Nehmen wir also die erste der zuvor gestellten Fragen auf: »Sind die Freimaurer eine Bruderschaft,
eine religiöse Organisation oder eine alternative Religion?«
Auf der Homepage der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland,33 einer
der Partnergroßlogen der VGLvD, war im Jahre 2009 eine Zeit lang an prominenter Stelle
Folgendes zu lesen:
Ȇber Freimaurerei ist schon viel geschrieben worden! Als Ziele der Logen werden
stets genannt: Selbstveredelung und Humanität. Aber geht es wirklich darum? Nein!
Damit sich niemand in die Logen verirrt, der dort nichts zu suchen hat, klärt das gerade
im renommierten Münchner Thiele Verlag erschienene Kurzwissen-Buch ›Freimaurer
in 60 Minuten‹ endlich darüber auf, worum es der alten Bruderschaft tatsächlich
geht: Unsterblichkeit ist das Ziel, Selbstveredelung nur der Weg und Humanität
eine logische Konsequenz.«
Doch geht es wirklich um Unsterblichkeit in der Freimaurerei?
Und wenn es der Freimaurerei tatsächlich darum ginge, wäre sie dann nicht etwas, was sie
doch gemeinhin so gar nicht sein will: nämlich Religion?
Will sie aber nicht Religion sein, so hätte sie sich deutlich von Religion abzugrenzen,
was freilich einer ethisch-symbolisch orientierten Freimaurerei leichter fällt als einem Freimaurerorden
christlicher Tradition.
2.4 Ein Orientierungsvorschlag zur Diskussion
Als Teilnehmer am gegenwärtigen Religionsdiskurs in der deutschen Freimaurerei möchte
ich – zwecks weiterer Diskussion – die Beziehungen zwischen Freimaurerei und Religion folgendermaßen
umreißen:
• Freimaurerei ist eine ethisch orientierte Vereinigung und keine Religion, und sie will auch
keinen Ersatz für eine Religion bieten, denn sie vermittelt kein Glaubenssystem und
kennt weder sakramentale Heilsmittel noch Theologie und Dogma.
• Die Freimaurer haben auch keinen gemeinsamen Gottesbegriff. Die symbolische Präsenz
eines »Großen Baumeisters aller Welten« in ihren Ritualen darf nicht mit den verschiedenen
Gottesverständnissen der Religionen verwechselt oder gar gleichgesetzt werden.
• Das Symbol des »Großen Baumeisters« stellt vielmehr das umfassende Symbol für den
Sinn der freimaurerischen Arbeit dar und ist als solches vom Freimaurer zu respektieren.
Denn ethisch orientiertes Handeln setzt die Anerkennung eines sinngebenden Prinzips,
eines die Unverbindlichkeiten des Alltags transzendierenden »höheren Seins« voraus, das
– weltanschaulich bestimmt, oder empirisch gefunden – Verantwortung begründet und
auf das die Ethik des Freimaurers letztlich rückbezogen ist. Das Symbol des »Großen
33 http://www.freimaurerorden.org.
194
Baumeisters« deutet den transzendenten Bezug des Freimaurers an, wobei Transzendenz
auch als eine immanente, nicht auf einen religiösen Glauben bezogene Transzendenz, als
ein »Über-sich-Hinausgehen innerhalb des Seins des Menschen« (Ernst Tugendhat34) verstanden
werden kann.
• Freimaurerei ist folglich offen für Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen
und auch für Menschen ohne Glaubensvorstellungen im herkömmlichen
Sinne. Unabdingbar ist allerdings, dass sie mit den im Diskurs gefundenen ethischen
Überzeugungen und moralischen Prinzipien des Freimaurerbundes übereinstimmen und
seine symbolisch-rituellen Ausdrucksformen akzeptieren.
• Die freimaurerische Tempelfeier ist kein Gottesdienst. Das Brauchtum des Bundes soll
vielmehr menschliches Miteinander, ethische Lebensorientierung und emotionale Spiritualität
durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar,
erlebbar und erlernbar machen.
Aufgrund einer solchen Festlegung und Abgrenzung kann das Verhältnis zu den großen
christlichen Kirchen entspannt und selbstbewusst entwickelt werden, zumal an zwei bedeutsame
Gemeinsamkeiten von Freimaurerei und Kirchen zu erinnern ist:
• die gemeinsamen Wurzeln in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte sowie
• die Verpflichtung zum ethischen Handeln, insbesondere zu praktischer Mitmenschlichkeit.
Zweierlei ist zu ergänzen. Zum einen bedeuten die zuvor dargelegten normativen Standpunkte,
die alle von der Grundaussage »Freimaurerei ist weder Religion noch Religionsersatz
«
ausgehen, in keiner Weise, dass Freimaurerei nicht de facto für den einen oder anderen Freimaurer
Religion oder Religionsersatz bedeutet oder dass zumindest die konkreten religiösen,
insbesondere christlichen Einstellungen freimaurerisch beeinflusst sind. Zum anderen empfiehlt
es sich, den Religionsbegriff nicht theologisch, sondern religionssoziologisch zu verstehen.
Deshalb stehen im Hintergrund meiner Überlegungen und Abgrenzungen auch ganz
bewusst Begriffe von Religion und Religiosität, die Glaubensinhalte und religiöse Funktionen
auseinanderhalten und die ihren Ursprung in der Religionssoziologie haben.
Talcott Parsons etwa, einer ihrer wichtigsten Vertreter, sieht die Aufgabe des Religiösen
darin, kulturelle Werte und Normen durch den Rekurs auf eine letzte Wirklichkeit – Parsons
spricht von »ultimate reality« – lebendig und verbindlich zu halten.35 Das was Parsons
»Rekurs auf eine letzte Wirklichkeit« nennt, ist nun aber nichts anderes als das, was der
Begriff Religion jenseits aller ihrer konkreten Erscheinungsformen und Glaubensinhalte
meint, nämlich Rückbindung an und Vertrauen auf eine sinnspendende Ordnung. Genau
das aber will Freimaurerei leisten: die Herstellung eines tragfähigen, das bloße materielle
Sein transzendierenden Sinn- und Wertbezugs, der freilich spezifisch religiöser Rückbindungen
oder eines Glaubens an Gott im traditionellen Sinne nicht bedarf.
Auch der Soziologe Thomas Luckmann stellt die positive, konstruktive gesellschaftliche
Rolle der Religion in den Vordergrund, indem er auf deren Potenzial bei der Krisenbewältigung
und bei der Stabilisierung der Gemeinschaft in Phasen sozialer Umbrüche hinweist.
34 Tugenthat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2010, S. 15.
35 Vgl. die Beiträge in: Trevino, A. Javier (Ed.): Talcott Parsons today. His theory and legacy in contemporary
sociology, Langham/Md. and Oxford, 2001.
195
Religiosität ist für Luckmann eine anthropologische Konstante, die sich in der Moderne
nur neue Formen der Repräsentation sucht und nicht – wie die Säkularisierungsthese
behauptet – verschwindet. Luckmann hat im Rahmen seiner Religionssoziologie Aufgabe
und Wirkungsweise der Religion als »Einübung und Einzwängung in ein das Einzeldasein
transzendierendes Sinngefüge« bezeichnet.36
Bei aller Ablehnung der Religionseigenschaft der Freimaurerei im Sinne eines inhaltlich
definierten Glaubens wäre es folglich gleichermaßen falsch und irreführend, den Begriff
des »Religiösen« allzu strikt von der Freimaurerei fernzuhalten. Im Sinne der Religionssoziologie
religiös, aber weder Religion noch religiöse Vereinigung, so ließe sich pointiert
formulieren.
Noch einmal: Freimaurerei ist kein Heilsweg, sondern ein Weg zur Bewährung im Hier
und Jetzt. Ein Weg – es gibt viele andere. Die Gleichzeitigkeit des Respekts vor Religion
und des Verzichts auf Nachahmung von Religion und/oder Einmischung in Religion
kann die Freimaurerloge zu einer Gemeinschaft machen, in der sich gläubige Menschen
ganz verschiedener Religionen mit religiös skeptischen, ja ungläubigen Menschen auf der
Grundlage verpflichtender Werte freundschaftlich miteinander verbinden. Hierin sollten
Freimaurer eine integrierende Kraft sehen, die – wenn auch gewiss nur in bescheidenem
Maße – dazu beitragen kann, die moderne (oder postmoderne) Gesellschaft mit all ihren
Auflösungs- und Spaltungstendenzen auf der Basis einer gemeinsamen Wertbasis zusammenzuhalten.
2.5 Erforderliche Differenzierungen
Es war – und jetzt ist zu einem weiteren Gesichtspunkt überzuleiten – von deutlichen Auffassungsunterschieden
in puncto Religion innerhalb der deutschen Freimaurerei die Rede.
Sie sind weitbekannt, werden jedoch nur selten reflektiert. Es lohnt sich daher, erneut davon
zu sprechen und Präzisierungen zu versuchen.
In den »Vereinigten Großlogen von Deutschland« treffen zwei aus der deutschen Tradition
hervorgegangene Freimaurereien – eine »humanitäre« und eine »christliche« – aufeinander.
Dies bedeutet natürlich nicht, dass Humanität Christentum und Christentum
Humanität ausschlösse. Eine solche Argumentation wäre töricht. Doch es macht schon
einen Unterschied, ob man als Freimaurer einem ethischen Bund angehören möchte, der
– die verschiedenen Weltanschauungen übergreifend – die moralische Vervollkommnung
von Einzelmensch und Gesellschaft anstrebt und zur Einübung ethisch orientierte Rituale
praktiziert, oder ob man einer religiös und christlich orientierten Logengemeinschaft angehören
möchte, deren von Gradstufe zu Gradstufe immer christlicher ausgerichteten Rituale
die Tempelfeier in Richtung Quasi-Gottesdienst transformieren. Man kann Freimaurerei
selbstverständlich so sehen und praktizieren, nur gilt es dann einzuräumen, dass es sich um
eine andere Freimaurerei handelt.
Die Unterscheidung »humanitär« und »christlich« ist somit auch heute – vielleicht sogar
wieder verstärkt – durchaus erforderlich. Sie ist analytisch unverzichtbar, sie ist für die
Bestimmung alternativer freimaurerischer Identitäten und ihrer organisatorischen Ausge-
36 Luckmann, Thomas: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Wössner, J. (Hrsg.): Religion im Umbruch:
soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft,
Stuttgart 1972, S. 13–15, hier S. 5.
196
staltung (demokratischer Aufbau vs. Ordensprinzip) ausschlaggebend, und sie ist für klare
Auskünfte gegenüber der Öffentlichkeit, den Medien, den Kirchen und nicht zuletzt den
Suchenden erforderlich, die nicht selten darüber im Unklaren gelassen werden, in welche
»Lehrart« der Freimaurerei sie sich aufnehmen lassen. Und nebenbei: Es waren gerade die
christlich-altpreußischen Großlogen, die die Unterscheidung »christlich« – »humanitär«
Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre intensiv und nachgerade begeistert verwendeten,
um in stürmischer See das Rettungsboot der nationalistisch-nationalsozialistischen Anpassung
zu erreichen.
Gäbe es die benannten Unterschiede mit ihren hierarchisch-organisatorischen Auswirkungen
und dem damit verbundenen Strukturkonservatismus nicht, dann gäbe es in
Deutschland nicht die Vereinigten Großlogen (Mehrzahl), sondern es gäbe eine Vereinigte
Großloge (Einzahl). Doch wir haben es – bei allem Respekt vor der VGLvD und ihren Repräsentanten
– allenfalls mit einem Großlogenbund, vielleicht gar nur mit einem »Vertrag
zwischen Großlogen« zu tun, der sich manchmal an der Vorstellung überhebt, Großloge zu
sein, mit durchaus unterschiedlichen Auffassungen der Partner vor allem in religionsbezogenen
Fragen. Die VGLvD sei aus keiner Liebesheirat entstanden, sie sei eine Vernunftehe
– etwa so kürzlich AFuAM-Großmeister Br. Jens Oberheide.37 Manch einer meint freilich,
es handele sich gar um eine »Unvernunftehe«, die ihre Entstehung vor allem internationalem
Druck und persönlichem Geltungsdrang verdanke. Doch nun ist sie da, die deutschen
Freimaurer müssen mit ihr leben, und wenn die erörterten Auffassungsunterschiede keine
Sprengkraft entfalten sollen, dann müssen die Brüder von hüben und drüben notwendigerweise
den religiösen Diskurs offen und redlich führen, einen Diskurs, der Gemeinsamkeiten
und Unterschiede in aller Freundschaft deutlich werden lässt und erklärt, und dann muss
man sich gemeinsam auch darüber klar werden, welche Großloge für welche Spielart von
Freimaurerei in der deutschen Öffentlichkeit spricht und zu sprechen befugt ist. Dass die
VGLvD nicht für die »ganze« deutsche Freimaurerei sprechen kann, ist klar. Hier gilt nun
einmal: keine Lehrart, keine Identität – keine Identität, keine Stimme. (Tatsächlich hilft
sich die VGLvD ja weitgehend damit, dass sie nach außen mit humanitären Tönen spricht.)
Schließlich gibt es noch eine weitere Schwierigkeit beim religiösen Diskurs: Die Gretchenfrage
an die Freimaurer – Wie haltet ihr’s mit der Religion? – kann ernsthaft nur beantwortet
werden, wenn die Hochgradsysteme, insbesondere die des Schottischen Ritus und
des Freimaurerordens in den Diskurs einbezogen werden. Denn, so kann gesagt werden, je
höher die Grade, desto religiöser die Inhalte, sei es im Sinne einer sich stufenweise entfaltenden
esoterischen Religiosität (Stichworte: »Letzter Tempel«, »Heiliges Reich«) oder im
Sinne einer symbolischen Christologie, die die jesuanische Ethik deutlich überhöht, eben
Jesus Christus statt allein Jesus, und die dieses in einer eindeutig christlich ausgerichteten
religiösen Praxis rituell bekräftigt.
Das sich fortgesetzt vertiefende, nur gradweise enthüllende, doch durch Arkandisziplin
zugleich immer wieder verhüllte Religionsverständnis der Hochgradsysteme erschwert
sowohl die Kommunikation nach innen und außen als auch das kompetente Urteil über
empirische Befunde. Man weiß nicht, wie es ist, weil man nicht weiß, wie es weitergeht.
Gewiss – so bekanntlich Ludwig Wittgenstein – »wovon man nicht sprechen kann, darüber
muss man schweigen«. Doch dann gerät man beim internen Diskurs wie bei den immer
37 Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, 35. Jg., H. 6/2009, S. 5.
197
wieder versuchten Klarstellungen nach außen in erhebliche Schwierigkeiten. Wäre es anders,
so würden sich die belletristisch-heiteren wie die verschwörungsdüsteren Fiktionen
nicht immer wieder gerade an den Hochgraden der Freimaurerei festmachen.
2.6 Konsequenzen
Letzte Frage: Welche Konsequenzen hat das Thema »Freimaurerei und Religion« für die zukünftige
Gesprächs- und Gestaltungspraxis innerhalb der deutschen Freimaurerei?
Über die Qualität einer »freimaurerischen Gesprächskultur« entscheidet nicht, worüber
man spricht, sondern auf welche Weise man sich mit anderen im Gespräch über etwas
austauscht.
Der Diskurs wird sich fortsetzen – nicht ob, sondern wie er geführt wird, ist die Frage.
Es geht um die Identität der Freimaurerei, um die Frage, worin ihre Mitglieder übereinstimmen,
aber auch, worin sie sich unterscheiden, es geht um Auskunftsfähigkeit gegenüber
der Gesellschaft, den »Interessenten außerhalb«.
Es geht aber auch um ein Ausloten von Reformbedarf und Reformmöglichkeiten im
Inneren des Freimaurerbundes: Denn – dies sei noch einmal nachdrücklich gefragt –, ist
nicht vieles in der Freimaurerei von heute konserviertes 19. Jahrhundert, konzeptionell,
rituell und auch organisatorisch?
Die deutschen Freimaurer können selbstverständlich alles so lassen wie bisher, wenn
sie davon überzeugt sind, dass alles gut und richtig ist. Doch meistens fehlen schlüssige
Begründungen dafür, dass etwas in der Freimaurerei so bleiben muss, wie es ist, nur weil es
immer so gewesen ist. Manchmal vermittelt sich der Eindruck, dass die Freimaurer vieles
einfach so passieren lassen (freemasonry by default, gleichsam) und dass es dann im Wesentlichen
für gut gehalten wird, weil es einfach so passiert. »Das haben wir immer schon so
gemacht, das haben wir noch nie so gemacht, da könnte ja jeder kommen« – Freimaurerei
als ein sich um sich selbst drehendes Bestätigungssystem, das in erster Linie symbolisches
Kapital für seine Akteure produziert, statt das große kulturelle Kapital des Bundes für die
Gemeinschaft aller Bürger zu nutzen und zu vermehren.
Deshalb sind weitere Diskurse erforderlich, interne Diskurse und Diskurse mit den
externen Beobachtern der Freimaurerei aus Wissenschaft, Gesellschaft und Medien. Der
Bund, der bald 300 Jahre alt ist, braucht Klarheit und Offenheit wie die Luft zum Atmen.
Wenn die Freimaurer im Ghetto innerer Widersprüche und konzeptioneller Inkonsequenzen
verharren, können sie nicht darauf hoffen, von denen ernst genommenen zu
werden, auf die es ihnen ankommen sollte: den Klugen, Gebildeten und Redlichen hierzulande
und anderswo in der Welt.
198
Vom Vorurteil zum Urteil:
Der freimaurerische Bildungsweg
»Vielleicht lautet die kürzeste aller Definitionen des Vorurteils: Von anderen ohne ausreichende
Begründung schlecht denken.« (G. W. Allport)
»Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil« (Albert Einstein)
»Ich habe keine Vorurteile – ich hasse jeden!« (Graffito an einer Großstadtwand)
Die Freimaurer sind – wie könnte es anders sein – auf dreifache Weise mit dem Thema »Vorurteil
« verbunden:
• Freimaurer forderten von Anfang an in Ideen und Ritualen eine von Vorurteilen freie Gesinnung;
• Freimaurer haben sich bis heute mit den teils lächerlichen, teils naiven, teils aggressiven
Vorurteilen auseinanderzusetzen, die andere über sie hegen und pflegen,
• Freimaurer müssen sich umgekehrt ihren eigenen Vorurteilen über sich selbst und die Welt
stellen, denn Freimaurer sind Menschen, und Menschen haben nun einmal Vorurteile.
Ich beginne mit einigen allgemeinen analytischen Überlegungen aus dem Kontext der Sozialwissenschaften,
um sie dann auf die Freimaurerei anzuwenden.
Vorausurteile und Vorurteile
Prüft man Literatur und Debatten zum »Vorurteil«, so ist zunächst festzustellen, dass es bis
heute keine generell anerkannte Definition des Vorurteils gibt und dass auch weder übereinstimmende
Erklärungen für die Entstehung von Vorurteilen noch allseits anerkannte Rezepte
für ihre Überwindung vorhanden sind.
Dennoch finden sich neben Differenzen auch Übereinstimmungen in der Vorurteilsforschung,
von denen bei der Analyse ausgegangen werden kann.
Zunächst wird oft empfohlen, zwischen Vorurteilen im Sinne von Voraus-Urteilen bzw.
vorläufigen Annahmen auf der einen und Vorurteilen als verfestigten Einstellungen mit
meist negativen Zuschreibungen auf der anderen Seite zu unterscheiden.
Voraus-Urteile, d.h. vorläufige Urteile ohne eingehende Überprüfung von Sachverhalten
und Personen, gelten gemeinhin als für uns Menschen unvermeidlich.
Die uns umgebende Wirklichkeit ist ebenso komplex wie unübersichtlich. Um sicher
in ihr leben zu können, brauchen wir jedoch ein möglichst vollständiges Bild unserer Lebenswelt.
Wir benötigen verlässliche, weil von uns für wahr gehaltene Vorstellungen, auf
deren Grundlage wir uns orientieren und handeln können. Diese Verlässlichkeit verschaffen
wir uns, indem wir durch Sprache, Begriffe und Symbole gesellschaftliche Realitäten
199
konstruieren,1 die so lange gültig und plausibel für uns sind, wie sie nicht durch gegenteilige
Erfahrungen und genauere Analysen infrage gestellt werden.
In diesem Sinne, im Sinne von Voraus-Urteilen, sind Vorurteile also ebenso unvermeidbar
wie notwendig. Doch solange sie vorläufig sind, d.h. ungeprüft bleiben, leisten
sie im Konflikt mit der Wirklichkeit oft nicht das, was wir von ihnen erwarten, nämlich
Sicherheit sowie verlässliche Orientierung, und so ist der Schritt vom Vorurteil zum Urteil
im Sinne von Annäherung an Realitäten Bestandteil und Aufgabe unserer tagtäglichen
Lebenswirklichkeit.
Auch die Wissenschaft hat von Voraus-Urteilen auszugehen. Sie formuliert Hypothesen,
in denen (prinzipiell der Falsifizierung zugängliche) Zusammenhänge formuliert werden,
die so lange dem Test fortgesetzter Falsifizierungsversuche auszusetzen sind, bis sie zu
(vorläufig) brauchbaren Urteilen, d.h. Theorien, geworden sind (Karl R. Popper2). Auch in
der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers3 spielt das Vorurteil im Sinne einer Vormeinung,
die für Überprüfungen und Erweiterungen offen ist, eine zentrale Rolle.
Zu Vorurteilen in einem gefährlichen, weil für den sozialen, religiösen und internationalen
Frieden abträglichen Sinne werden Voraus-Urteile dann,
• wenn sie auf unzulässige Weise durch die Bildung von Stereotypen verallgemeinert werden,
etwa nach dem Muster »alle Türken sind nun einmal so«,
• und wenn sie starr sind, d.h., wenn sie auch angesichts neuer und ihnen widersprechender
Informationen nicht geändert werden.
Gewiss: In vielen Fällen sind Vorurteile harmlose Selbsttäuschungen, deren soziale Gefahr
gering ist. Häufig dienen sie auf mehr oder weniger geistreiche Weise auch der Selbstkoketterie
(»ich als altes Maurerschlachtross«) oder der Frotzelei (»Hallo, ihr Düsseldorfer«). Doch
oft wirken sich Vorurteile sozial schädlich aus, insbesondere dann, wenn sie Feindbilder festschreiben,
die emotional aufgeladen sind und von denen aus die Schwelle zur aggressiven
Handlung nur allzu leicht überschritten wird.
Einzelne Werte wie die freimaurerische Werttrias Menschlichkeit, Toleranz und Brüderlichkeit
oder umfassende moralische Systeme, die darauf angelegt sind, Einzelwerte zum
Ethos zu integrieren – Stichwort »Projekt Weltethos«, für das Hans Küng mit dem Kulturpreis
deutscher Freimaurer ausgezeichnet wurde –, werden nicht zuletzt durch Vorurteile
gefährdet, die sich auf eine manchmal offene, manchmal versteckt subtile Weise zu negativ
und aggressiv aufgeladenen, handlungssteuernden Weltsichten verdichten.
Deshalb steht zu Recht, auch aus freimaurerischer Sicht zu Recht, dieser sozial gefährliche,
aggressive Charakter des Vorurteils im Vordergrund der Vorurteilsforschung und
vieler Debatten in der gesellschaftlich-politischen Praxis.
Für die Identifizierung von Vorurteilen und den Kampf gegen ihren negativ-aggressiven
Charakter sind inzwischen gar spezielle Institute gegründet worden, wie das »Sir Peter
1 Vgl. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie
der Wissenssoziologie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1972.
2 Popper, Karl R: Logik der Forschung, 11. Auflage, Tübingen 2005.
3 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3., erweiterte
Auflage Tübingen 1975.
200
Ustinov Institut zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen«, das seit 2003 in Wien
besteht.
Peter Ustinov hat den Kern seiner Impulse, Überlegungen und Absichten einmal in der
für ihn typischen lockeren und zugleich präzisen Art wie folgt formuliert:
»Das Vorurteil ist nach Jahrhunderten im Untergrund als Maulwurf in unserer Mitte
identifiziert worden. Es ist identifiziert worden als einer der großen Schurken in
der Besetzungsliste der Geschichte. Es ist verantwortlich für die Missverständnisse
zwischen Nationen und Religionen, die anders sind als die eigene, genauso wie für
die unkritische Lobpreisung der eigenen Religion und Nation. Es benutzt die blanke
Unkenntnis als Waffe.«4
Ustinov wollte die verhängnisvolle Rolle aufdecken, die negative, aber auch positive Vorurteile
bei der Verursachung von menschlichem Leid und von Streit zwischen Völkern und Religionen
spielen. Er wollte helfen, die Entstehungs- und Wirkungsstrukturen von Vorurteilen
transparent machen, und er wollte in seinem Institut Vorgehensweisen erforschen lassen,
durch die Vorurteile und ihre schädlichen Wirkungen reduziert werden können.
Ursachen
Was ist – wenn wir genauer hinschauen – die Ursache aggressiver, sozial schädlicher Vorurteile?
5
Hierzu gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze, die jeweils einzelne Aspekte fokussieren,
doch in ihrer Gesamtheit das Entstehen von Vorurteilen von fünf Seiten her recht gut erklären
können.
• Danach sind Vorurteile erstens auf die immer lückenhaften und fehlerbehafteten Prozesse
der Informationsverarbeitung des Menschen zurückzuführen.
• Zweitens entstehen Vorurteile aufgrund der Persönlichkeitsstruktur des Individuums, seiner
frühkindlichen Verletzungen, seiner innerpsychischen Konflikte und seiner oft destruktiven
Versuche, diese Konflikte zu lösen.
• Drittens kommen Vorurteile durch die Übernahme von Vorurteilen anderer im Sozialisationsprozess
des Menschen zustande, aufgrund der prägende Rolle von Familien und
Schulen sowie von sozialen, kulturellen und religiösen Gruppen.
• Viertens entstehen Vorurteile als Schutz- und Angriffsmechanismen in Konflikten zwischen
sozialen, ethnischen und religiösen Gruppierungen, bei denen einerseits Macht
und ökonomische Interessen, andererseits aber auch politische Ideologien und religiöse
Überzeugungen auf dem Spiele stehen.
4 www.ustinov.at/institut.htm.
5 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Vorurteile und Diskriminierung – Bildungsmaterialien gegen Ausgrenzung
(Verfasserin Birgit Reims), hrsg. vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit
in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW), Düsseldorf 2005, deren nützlicher Strukturierungen
und Zusammenfassungen ich mich auf den folgenden Seiten meines Textes bediene. Ida-nrw.de/Diskriminierung/
html/glossar.
201
• Fünftens schließlich sind Vorurteile Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses von Völkern,
Kulturen und Religionen, Ergebnis eines keiner Erklärung bedürfenden »Das war
so, das ist so, und das bleibt so«, im Sinne eines »Württemberger sind nun einmal besser
als Badenser« (bzw. umgekehrt!).
Auch die Hartnäckigkeit der Vorurteile, die Frage, warum Vorurteile so resistent gegen Kritik
sind, auch wenn diese Kritik aufgrund ihrer argumentativen Dichte einen hohen Grad an
Überzeugungskraft besitzt, ist von der Forschung aufgegriffen worden.
Vorurteile – so lautet zusammenfassend das Ergebnis vieler einzelner Analysen – sind trotz
ihrer allgemein anerkannten Schädlichkeit für ihre Urheber und Träger nützlich, und es ist
diese ihre Funktionalität, die dazu verleitet, an ihnen festzuhalten:
• So dienen Vorurteile – wir kennen den Gesichtspunkt bereits – der Orientierung in einer
komplexen Welt im Sinne eines (oft unbewussten) »Ich kenne meine Welt, und ich halte
an ihr fest, denn ich habe sie mir selbst konstruiert«.
• So ermöglichen Vorurteile Einzelpersonen wie Gruppen die Herstellung und Aufrechterhaltung
von Selbstwertgefühlen, indem sie – im Sinne eines »Kleider machen Leute« – einer
attraktiven Selbstausstattung dienen.
• So fungieren Vorurteile als Legitimierung von Herrschaft. Alle hierarchischen Systeme –
auch solche in demokratischen Systemen und pluralistischen Gesellschaften – pflegen
folglich eine dafür geeignete Vorurteilskultur, oder besser: Vorurteilsunkultur.
• So dienen Vorurteile schließlich über die Benennung von »Sündenböcken« der Vorbereitung
von politischen Umstürzen und Griffen nach der Macht. Die Instrumentalisierung
des Antisemitismus durch die Nazis vor und nach 1933 ist hierfür ein ebenso abstoßendes
wir folgenreiches Beispiel.
Aggressive Vorurteile sind dabei auf eine fatale Weise dann besonders effektiv, wenn es gelingt,
ihre kognitiven, affektiven und zum Handeln antreibenden Komponenten zu verschmelzen
und sie gleichsam mit »geballter Wucht und Wut« zum Einsatz zu bringen.
Als Beispiel nenne ich die verhängnisvolle Trias des nazistischen Antisemitismus:
• Kognitive Komponente: »Alle Juden sind sozial schädlich.«
• Affektive Komponente: »Ich habe deshalb eine unheimliche Wut auf sie.«
• Handlungsstimulierende Komponente: »Und jetzt werden wir es ihnen einmal gründlich
zeigen!«
(Die Älteren von uns mögen Goebbels’ diesbezüglich hetzende Tiraden noch im Ohr haben.)
Überwindung von Vorurteilen
Wie steht es nun um Gegenmaßnahmen, um Chancen für einen Abbau, für eine Überwindung
von Vorurteilen?
202
Bedauerlicherweise gelten Vorurteile in der Vorurteilsforschung aufgrund ihrer psychischen,
sozialen und gesellschaftspolitischen Funktionen als nur schwer überwindbar, und
die Praxis liefert ja auch viele Beispiele dafür.
»Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil«, hat Albert Einstein einmal
gesagt.
Wie können – trotz aller Schwierigkeiten – Vorurteile, wenn nicht gänzlich überwunden,
so doch zumindest abgeschwächt werden?
Auch auf diese Frage gibt es je nach Analyseansatz unterschiedliche Antworten, und ich
möchte die wichtigsten dieser Ansätze, die vermutlich am besten kombiniert zum Einsatz
kommen, zusammenfassend nennen.
Zunächst stimmen Vorurteilsforscher in der Regel darin überein, dass Vorurteile kaum direkt
und unmittelbar überwunden werden können, dass vielmehr die Ursachen der Vorurteile
beseitigt, und d.h. vor allem, dass die individuellen und kollektiven Prägungen, Einbettungen
und Milieus verändert werden müssen, in deren Wirkungsbereich sich Vorurteile entwickeln.
Im Einzelnen setzen
• Individualpsychologische und psychoanalytische Theorien vor allem auf die Veränderung
von Erziehungsstilen und Eltern-Kind-Beziehungen, insbesondere auf die Stärkung
von Selbstwertgefühlen durch die Förderung von Eigeninitiative und das Vermitteln von
Erfolgserlebnissen.
• Kognitive Ansätze verweisen auf die Bedeutung von Bildung und Aufklärung. Die Spannweite
geeigneter Gegenmaßnahmen reicht hierbei von der Wissensvermittlung über das
jeweils als »fremd« wahrgenommene »andere« bis hin zur Aufklärung über die Mechanismen
menschlicher Selbsttäuschungen, die oft versteckten Erscheinungsformen von Diskriminierung
und die vom Urheber oft gar nicht bedachten Konsequenzen, die Diskriminierungen
für Diskriminierungsopfer mit sich bringen.
• Konflikttheoretische Ansätze heben hervor, dass der Kampf gegen das Vorurteil über den
Abbau von Konkurrenz und hierarchischer Macht zu führen habe sowie über die Entwicklung
sozialer Kompetenz und die Einübung in ein solidarisches Handeln.
• Aus lern- bzw. sozialisationstheoretischer Sicht werden die Vorbildfunktionen von Eltern,
Erziehenden, Medien sowie von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten hervorgehoben.
Ferner wird die günstige Auswirkung eines gesellschaftlichen Klimas der Toleranz
betont, in dem – auf der Basis wechselseitiger Akzeptanz – viele, auch unterschiedliche
Lebensweisen und Lebensstile heimisch werden können und sich soziale Milieus
entwickeln, in denen Vorurteile gleichsam in sich selbst zusammenschrumpfen.
• Aus der Sicht sozialpsychologischer bzw. gruppensoziologischer Studien schließlich tragen
Kontakte zwischen vorurteilsbesetzten Gruppen zum Abbau von Vorurteilen bei –
etwa die Bildung interethnischer und interreligiöser Gruppen –, die freilich nur unter der
Bedingung von Fairness, Akzeptanz und Gleichberechtigung Erfolg versprechen. Daniel
Barenboims isrealisch-palästinensisches Jugendorchester (»The West-Eastern Divan Orchestra
«) ist ein hervorragendes Beispiel dafür.
Als wichtig wird bei all diesen Ansätzen hervorgehoben, dass es primär der Einzelne ist, der
Vorurteile abzulegen und sich in eine Haltung der Offenheit für neues Wissen und neue soziale
203
Orientierung einzuüben hat. Und bevor ich nun im zweiten Teil meines Beitrags eingehender
auf die Freimaurer zu sprechen komme, möchte ich bereits an dieser Stelle einmal fragen:
Sich aktiv einzuordnen in kleinere oder gar größere Bemühungen um die Entwicklung
einer Kultur der Vorurteilsüberwindung – wäre dies nicht eine Aufgabe, geradezu geschaffen
für eine Freimaurerei, die immer etwas im öffentlichen Raum leisten will, was ihren
Zielen und ihrer Tradition entspricht, und die doch oft nicht weiß, worin eigentlich diese
ihre öffentliche Aufgabe bestehen könnte?
Verlassen wir jetzt also die allgemeine Vorurteilsanalyse und wenden wir sie auf die
Freimaurerei im Speziellen an.
Freimaurerische Anwendungen
Zunächst: So sehr es richtig ist, dass eine systematische Erforschung des Vorurteils, des
Nährbodens, auf dem es wächst, und der Methoden, es zu überwinden, erst in den 50er und
60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzt, wobei Gordon W. Allports großer Studie über
»Die Natur des Vorurteils« von 19546 eine besondere Bedeutung zukommt, so sehr ist doch
zugleich darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigung mit dem Vorurteil und der Kampf dagegen
viel älter ist, dass ihr Beginn in die Entstehungszeit der Freimaurerei, ja noch fast ein
Jahrhundert weiter zurück in ihre Vorperiode zu datieren ist.
Die erste bedeutsame Thematisierung des Vorurteilsproblems findet sich in einer vom
englischen Empiristen Francis Bacon im Jahre 1620 unter dem Titel »Novum Organum«
veröffentlichten Aphorismen-Sammlung7.
Der Mensch, so erläutert Bacon in Aphorismus 38, kann nur mit Mühe die Wahrheit
erkennen. Idole (Bacons Wort für Trugbilder und Vorurteile) und falsche Begriffe hindern
ihn daran.
Bacon unterscheidet vier interessante und durchaus modern anmutende Arten von Idolen:
• die Idole des Stammes, die in der Gattung des Menschen begründet sind, der nun einmal
nie die ganze Wahrheit kennen kann;
• die Idole der Höhle, die individuell bei jedem vorhanden sind, denn jeder hat – so Bacon
– eine Höhle oder eine spezifische Grotte, »welche das Licht der Natur bricht und verdirbt
«;
• die Idole des Marktes als Folge des engen Beieinanderseins der Menschen, als Folge der
Gemeinschaft und als Folge des Verkehrs mit anderen Menschen
und schließlich
• die Idole des Theaters. Denn auf der großen Bühne geistiger Selbstdarstellung wurden
– so wieder Originalton Bacon – »Philosophien erfunden, wurden für wahr unterstellt
und sind in den Geist des Menschen eingedrungen. Philosophische Lehrmeinungen, Sekten,
Prinzipien sowie Lehrsätze von Wissenschaften haben durch Tradition, Leichtgläubigkeit
und Nachlässigkeit Geltung erlangt. Der menschliche Verstand muss vor ihnen
auf der Hut sein.«
6 Allport, Gordon W.: Die Natur des Vorurteils (1954), Köln 1971.
7 Bacon, Francis: Novum Organum. Aphorismen über die Interpretation der Natur und das Reich des
Menschen, in: Gawlick, Günter: Empirismus, Stuttgart 1980, S. 26–49, hier S. 33–36.
204
Damit ist das große Thema angeschlagen, das im Zentrum der Aufklärung steht und das
auch zum großen Thema der Freimaurerei geworden ist.
Freimaurer als gleichermaßen Geschöpfe und Mit-Schöpfer der Aufklärung reihten sich
in den Kampf gegen das Vorurteil ein und vermittelten ihm Akzente und Impulse.
Lessing, wenn nicht der bedeutendste, so doch sicher der wortmächtigste Aufklärer
unter den deutschen Freimaurern, gab diesem Ringen um kommunikative Vernunft immer
wieder beredt Ausdruck.8
Wir kennen und lieben seine geschliffenen Sätze:
»Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die über
die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüssten, wo Patriotismus
Tugend zu sein aufhöret.«
»Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem
Vorurteile ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, dass alles
notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.«
Und im Nathan:
»Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!«
Es ist nun von signifikanter Bedeutung für das Selbstverständnis einer ethisch orientierten
Freimaurerei, wie sie aus den Reformen des Bundes nach dem Zusammenbruch der »Strikten
Observanz« und dem Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782 am Ende des 18.
Jahrhunderts hervorgeht, dass die Benennung des Vorurteils als eines großes Übels auch
Eingang in das freimaurerische Ritual gefunden hat. Allerdings nicht in jedes. Während beispielsweise
das Ritual, das am intensivsten den Geist der Aufklärung umsetzt, das Ritual
Friedrich Ludwig Schröders, im Ritual des Lehrlingsgrades von 1801 an nicht weniger als sieben
Stellen vom Vorurteil und der Notwendigkeit seiner Überwindung spricht, findet sich
im Ritual der Großen Landesloge keine einzige Erwähnung.
Schröder, wie auch der Kantianer Feßler für die Große Loge Royal York, wollten auf
das, was Fichte nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« »die tabula rasa der
Freimaurerei« nennt9, etwas schreiben, »was ihrer würdig ist«: den Geist der Aufklärung, der
nicht nur gegenüber einer rückständigen profanen Umwelt, sondern auch gegenüber vielen
zeitgenössischen freimaurerischen Irrwegen wieder zu befestigen und zu bewahren ist. Es
sind also nicht zuletzt die in der Freimaurerei selbst anzutreffenden und von ihnen vor
allem auf Hochgradirrwege zurückgeführten Vorurteile, gegen die Reformer wie Schröder
und Feßler anzugehen sich bemühen.
8 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Lessing und die deutsche Freimaurerei der Gegenwart, Veröffentlichungen
der Lessing-Gesellschaft, Hamburg 2004.
9 Fichte, Johann Gottlieb: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant, hrsg. von Thomas Held, Düsseldorf
und Bonn 1997, S. 21.
205
Hören wir im Originalton den Ritualreformer Schröder von 180110:
»Hülfsbedürftig setzt die Natur den Menschen in die Welt; von Vorurtheilen und
Leidenschaften geblendet vergißt er seine Würde; die Vernunft zeigt ihm die Mittel,
auf den Weg der Wahrheit zu gelangen.«
Oder:
»Der rohe Stein, an welchem der Lehrling zur Arbeit angewiesen wird, ist das Sinnbild
des unaufgeklärten, mit Vorurtheilen erfüllten Menschen; der behauene aus ihm
werden kann, wenn er sein Herz und seinen Geist bearbeitet.«
Oder:
»Denn so wie ein Gebäude durch Weisheit erfunden, durch Stärke ausgeführt, und
durch Schönheit geziert wird, so bedeuten auch die drei großen Gegenstände der
Freimaurerei: erstens Weisheit, Ueberwindung der Vorurtheile, Wahrheit, Ueberzeugung,
Erforschung unserer Selbst ….«
Wohlgemerkt: Weisheit bedeutet in Schröders Ritualverständnis primär Überwindung der
Vorurteile und Erforschung des eigenen Selbst. Ideenwelt und Ritual stehen in der ethisch
orientierten Freimaurerei nicht unverbunden nebeneinander: Das Ritual nimmt vielmehr
die Ideen der (am Ende des 18. Jahrhunderts immer »bürgerlicher« werdenden) Aufklärung
auf und spiegelt sie – um sie einübbar zu machen – im rituellen Vollzug auf den Freimaurer
zurück.
Folgerungen für die Praxis
Aber bedarf der Freimaurer heutzutage überhaupt der Belehrung, vorurteilsfrei zu sein?
Nehmen wir »Brüder des Lichts« nicht gern von uns an, bereits durch und durch aufgeklärt
zu sein?
Mir scheint Skepsis am Platz, und wenn wir die Analyse des Vorurteils von Francis
Bacon bis Gordon Allport und die moderne Sozialtheorie Revue passieren lassen, so wäre
ein vorurteilsfreier Freimaurer wahrlich ein anthropologisches Wunder.
Natürlich haben wir Freimaurer Vorurteile! Aber warum?
• Erstens, weil auch wir Freimaurer Menschen sind, die nicht alles wissen können und die
gezwungen sind, Wissenslücken durch Annahmen, durch Voraus-Urteile zu überbrücken.
• Zweitens, weil auch wir unsere Herkunft, unsere frühen Erfahrungen, unsere Sozialisation
nicht verleugnen können, weil wir aus verschiedenen prägenden Milieus stammen und
weil alle diese Milieus mehr oder weniger mit Vorurteilen behaftet sind.
10 Schröder, Friedrich Ludwig: Ritual des Lehrlings-Grades der unter der Constitution der großen Provinzial-
Loge von Hamburg und Niedersachsen arbeitenden gerechten und vollkommenen Freimaurer Logen,
Hamburg 1801.
206
• Drittens: Auch wir Freimaurer stehen im gesellschaftlichen Prozess, wir haben unsere Positionen
und wir haben unsere Interessen. Und weil wir unterschiedliche Rollen spielen und
nicht davon ausgehen können, dass diese immer allen gefallen, versuchen wir, unser Rollenverhalten
vor uns selbst und anderen durch lieb gewordene Stereotype zu legitimieren.
• Schließlich haben auch wir Freimaurer uns in den großen Denk- und Glaubenssystemen
religiös, weltanschaulich, ideologisch und politisch verortet, auch in den uns lieb gewordenen
freimaurerischen Systemen, auch in den Gehäusen unserer niederen oder höheren
Grade. Wir spielen immer und unvermeidbar kleines oder großes Welttheater, und wir
sind immer wieder in Versuchung, die Bühne, auf der wir spielen, mit den Kulissen unserer
Vorurteile attraktiv auszugestalten.
Welche unserer Vorurteile sind nun besonders schädlich? Ich denke, dass die Gefahr, unter
Freimaurern auf aggressive Vorurteile zu stoßen, geringer geworden ist. Doch man braucht
nur das freimaurerische Schrifttum der 20er und frühen 30er Jahre durchzusehen, um zu
erschrecken, wie bis hin zum Antisemitismus die ganze Palette völkischer Vorurteile in der
deutschen Freimaurerei heimisch gewesen ist.11
Dies aufzuarbeiten haben wir Freimaurer leider weitgehend der externen Forschung
überlassen.12 Doch das »Sich-drücken-vor-dem-Wahrnehmen« der Vorurteile von gestern
führt nun nicht geradewegs zur Sorge, dass auch die heutige deutsche Freimaurerei anfällig
für nationalistische oder gar rassistische Vorurteile ist. Wie erinnern uns nicht gern an das,
was früher war, aber wir haben es hinter uns gelassen.
Die Vorurteile, die uns Freimaurer heute anhaften, haben m.E. vor allem mit unserem
Strukturkonservativismus, unseren Schwächen im zwischenmenschlichen Verhalten und
mit unserem unzureichenden Wissen zu tun.
Ich möchte nicht behaupten, sondern Fragen stellen:
• Bemühen wir uns genug darum, Vorurteile auch in unseren eigenen Strukturen und Verhaltensweisen,
ja in unseren Ritualen aufzuspüren und sie nicht nur unserer Umwelt anzulasten?
• Ziehen wir immer die erforderlichen organisatorischen Konsequenzen, wenn wir uns im
Brustton der Überzeugung darauf berufen, dass es nur eine Freimaurerei gäbe?
• Sind wir nicht oft schroff und anmaßend im Verhalten zueinander, und lassen wir uns
nicht durch unsere Vorteile auch noch ein gutes Gewissen dafür verschaffen?
• Hegen wir nicht zuweilen verletzende Vorurteile gegen die von uns, die sich um gründliche
intellektuelle Aufarbeitung bemühen, ja Forschung betreiben, im Sinne eines: »Wissenschaft
bedeutet, dass noch mehr geschrieben wird, was keiner liest« oder »Was da erforscht
wird, ist mir ohnehin schon alles bekannt«?
• Belastet nicht ein zu geringes freimaurerisches Wissen unser Verhältnis zum reichen kulturellen
Erbe der Freimaurerei, zur ganzen Fülle dessen, was Freimaurerei kulturell und
historisch ausmacht?
11 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
in diesem Band, S. 51–87.
12 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerische Erinnerungskultur, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
»Quatuor Coronati«, I/2005, S. 3–8.
207
• Begnügen wir uns nicht in unserer Kommunikation mit der Gesellschaft allzu oft mit
recht abgespeckten Versionen von Freimaurerei, die zudem nicht selten wenig mit den
Realitäten zu tun haben, d.h. Vorurteile sind?
• Besteht nicht zwischen unserem Anspruch, moralische Urteile über Politik und Gesellschaft
zu fällen, und dem Wissen, das bei uns Freimaurern vorhanden ist, um in der Lage
zu sein, soziale Zusammenhänge wirklich realitätsadäquat zu beurteilen, eine häufig ärgerliche
Diskrepanz?
• Lassen nicht eine oft unangemessene Politik- und Politikerschelte sowie Fehleinschätzungen
der Funktionsweise des demokratischen Systems vermuten, dass unser politischgesellschaftliches
Wissen und Urteilsvermögen geringer ist, als es sich wir Freimaurer eigentlich
leisten dürften?
• Und lassen nicht gar grobe Vereinfachungen, aggressive Rechthaberei, kategorisches Entweder-
oder oder moralische Selbstgerechtigkeit manchmal nicht gar die Konturen einer
problematischen Stammtischnähe aufscheinen?
• Und wenn diese Fragen etwas für sich haben sollten: Sind wir bereit, Vorurteile zu überwinden
und zum Urteil fortzuschreiten?
Zum Schluss: Was sollen wir tun, um vom Vorurteil zum Urteil fortzuschreiten?
Vier methodische Ansätze kommen mir in den Sinn, die mir ebenso unverzichtbar wie aussichtsreich
erscheinen:
• Erstens das Bemühen um einen offenen, empathischen, doch zugleich kritischen Umgang
miteinander in der brüderlichen Gemeinschaft der Loge.
• Zweitens das Engagement für einen redlichen, ethisch orientierten Diskurs bei unserer
geistigen Arbeit, ausgerichtet am unverzichtbaren »nichts geht über das laut denken mit
dem Freunde«, bei dem nicht der lauwarme Regen vermeintlicher Toleranz Vorurteile
überdeckt, wenn nicht gar legitimiert, sondern durch klare Benennungen offen legt.
• Drittens die Pflege einer Ritualpraxis, die das freimaurerische Ritual mit seinen prozesshaft
auf Veränderung angelegten Prüfungs- und Einübungselementen aufklärerisch-lebendig
im Sinne ethischer Einübung auf uns wirken lässt.
• Und Viertens – gleichsam als freimaurerische Hausaufgabe – das stete Anarbeiten gegen
Unwissenheit im Sinne eines: Wo Vorurteil war, soll Urteil möglich werden, sowie das
Bemühen, in Bezug auf Gesinnung und Verhalten anstatt eines Teilzeitmaurers ein Ganztagsmaurer
zu sein, dem es zu wenig ist, das Ringen um eine bessere Welt vorwiegend an
andere zu delegieren, um sie dann – durchaus zu Recht – dafür mit Preisen auszuzeichnen,
der vielmehr selbst aktiv wird, beispielsweise durch eine mit geeigneten Partnergruppen
vernetzte Aktion »Freimaurer gegen Vorurteile«.
Dann können vielleicht auch einmal andere über die Freimaurer sagen: Donnerwetter, die
stehen ja mitten in der Zeit und die sind wirklich gut – (und dann gäbe es vielleicht gar einmal
einen Preis für die Freimaurerei).
Aber wäre das dann nicht ein unzulässiges politisches Engagement? Nicht, wenn wir klar unterscheiden
zwischen
208
• dem politischen Prozess, bei dem – im politischen Streit auf der institutionellen Grundlage
einer pluralistischen Demokratie – parteiische Meinungen aufeinandertreffen und in
dem die Freimaurerei als Institution (im Unterschied zum einzelnen Freimaurer) nichts
zu suchen hat und
• den quasi vorpolitischen, politisch aber höchst relevanten Grundlagen der Politik. Hiergeht
es in erster Linie um dreierlei: (1) um Wissenserwerb und den Kampf gegen Vorurteile,
(2) um unaufgebbare moralische Standards für politisches Handeln sowie die Frage,
inwieweit sich Norm und Realität entsprechen und (3) um Verhaltensstile, um menschlichen
Umgang im politischen Raum, kurz um politische Kultur.
Für eine Freimaurerei, die sich als Lebenskunst versteht, die menschliches Miteinander und
ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft
der Loge erlebbar macht, böte sich hier auf dem Gebiet der Grundlagen von Politik ein
ebenso kreatives wie verantwortungsvolles Denk- und Handlungsfeld. Würde sie hier verstärkt
aktiv, so könnte sich nicht nur der einzelne Freimaurer, sondern auch die Freimaurerei
als Institution viel stärker als bisher im öffentlichen Raum bemerkbar machen. Dann würde
die Freimaurerei zu einer ernst zu nehmenden Gruppe, die bereit und in der Lage ist, sich
mit ihrem ganz spezifischen Angebot den Problemen der Zeit zu stellen.
209
Bürgerliches Selbst- und Wertebewusstsein
als Zukunftsfaktor Europas
1. Kulturelle Faktoren in der Politik
Politik ist sowohl in ihren institutionellen Strukturen als auch in ihren durch Interessenkonflikte
und Machtkämpfe bestimmten Abläufen stets äußerst vielschichtig und kompliziert. Es mag
daher ratsam sein, zu Beginn einer Analyse gegenwärtiger und zukünftiger Perspektiven europäischer
Politik, bei der vor allem kulturelle Faktoren berücksichtigt werden sollen, in aller Kürze
einige Dimensionen der angemerkten Komplexität aufzuzeigen. Einerlei, ob es um innerstaatliche
Entwicklungen geht, um internationale Beziehungen oder um die Gestaltung des künftigen
Europas: Stets hat das Gelingen von Politik mindestens vier unverzichtbare Voraussetzungen:
• Erstens muss ein möglichst widerspruchsfreier institutioneller Rahmen vorhanden sein,
der aus verbindlichen Normen, aus Gesetzen von der Verfassung bis hin zu einzelnen
Rechtsregeln und Vorschriften besteht. Ohne einen solchen Rahmen lassen sich politische,
insbesondere ökonomische Abläufe, wie zuletzt die internationale Finanzkrise gezeigt
hat, nicht zufriedenstellend regeln.
• Innerhalb dieses Rahmens müssen zweitens klare, konsistente und ausreichend akzeptierte
Konzeptionen für das Handeln der politischen Akteure vorhanden sein. Ohne fundierte
Konzeptionen sind zieladäquate, effektive und zugleich effiziente Maßnahmen der
Politik auf all ihren Feldern nicht zu gewährleisten.
• Drittens muss es in allen Bereichen des politischen Handelns und Entscheidens leistungsfähige
Akteure geben, Politiker, die mit »Leidenschaft und Augenmaß« (Max Weber) politische
Konzepte im Rahmen der gegebenen Institutionen professionell und wirkungsvoll
umzusetzen verstehen.
• Viertens schließlich gelingt Politik nur auf der Basis von kulturellen Faktoren, zu denen
in erster Linie Vertrauen, Motivationen, Überzeugungen und Wertvorstellungen gehören.
Menschen müssen nicht nur wissen, was sie tun und in welchem Ordnungsgefüge sie handeln,
sie müssen auch wissen, warum sie handeln, und vor allem müssen sie über innere
Maßstäbe verfügen, die sie verpflichten, ethisch verantwortlich tätig zu sein.
Viele Diskussionen hierzulande weisen darauf hin, dass das Bewusstsein für die kulturellen
Grundlagen der Politik in der jüngsten Vergangenheit zugenommen hat.
Ich erwähne mit ein paar Stichworten nur
• die Diskurse über Notwendigkeit – aber auch Abwegigkeit – einer sogenannten »deutschen
Leitkultur«,
• die anhaltenden Debatten um Werteverfall, Wertewandel und neue Werte in der modernen
Gesellschaft von heute,
• die vehementen öffentlichen Klagen um die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftskrise,
Unternehmerversagen und moralische Defizite der ökonomischen Eliten,
sowie
• das zunehmende öffentliche Nachdenken über Notwendigkeit und Möglichkeit einer
neuen Bürgerlichkeit, worauf gleich noch ausführlich zurückzukommen ist.
210
Diese Debatten haben längst den nationalen Rahmen verlassen. Vor allem die Wertdebatte
hat einen internationalen, ja globalen Charakter angenommen. Teils wird sie hoffnungsvoll
geführt – ein wichtiges Beispiel dafür ist das von Hans Küng propagierte »Projekt Weltethos«
–, teils steht sie unter einem pessimistischen Vorzeichen, wofür Samuel Huntingtons düstere
Perspektive eines »Clash of Civilisations«, eines »Kampfes der Kulturen«, besonders paradigmatisch
ist.
Schließlich hat mit den Bemühungen um eine Verfassung der Europäischen Union zu
Beginn des 21. Jahrhunderts eine intensive Debatte um die der Union zugrunde liegenden
europäischen Werte eingesetzt.
2. Europäische Werte
Ohne Werte geht es nicht, dessen sind sich offenkundig auch die Mütter und Väter einer neuen
europäischen Verfassungsordnung bewusst.
Daher wird sowohl im gescheiterten »Vertrag über die Verfassung der Europäischen
Union« vom Oktober 2004 als auch im danach in Angriff genommenen »Vertrag über die
Europäische Union« vom Dezember 2007, dem sogenannten Vertrag von Lissabon, neben
der Regelung von Institutionen und Entscheidungsprozessen auch die Frage nach den Wertgrundlagen
Europas angesprochen und ein europäischer Wertekanon definiert.
Dementsprechend lautet Artikel 2 des »Vertrags über die Europäische Union«:
»Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit,
Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte
einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese
Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,
Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit
von Frauen und Männern auszeichnet.«1
Auch Herkunft und Grundlagen dieser Werte werden genannt:2 Man habe bei der Formulierung
geschöpft
»aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die
unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie,
Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben«,
und man habe sich von der Überzeugung leiten lassen,
»dass ein nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa auf dem Weg
der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner,
auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein
Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass
1 Vertrag von Lissabon, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, S. 34.
2 Vertrag von Lissabon, Präambel, ebenda, S. 32.
211
es Demokratie und Transparenz als Grundlage seines öffentlichen Lebens stärken und
auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will«.
Gewiss, die Europäische Union umfasst nicht das gesamte Europa, und sie ist auch nicht homogen
und einheitlich; doch politisch und konzeptionell ist die Union der bedeutsamste
gemeinsame Ausdruck, den Europa in seiner Geschichte gefunden hat. Es hat zwar auch im
bisherigen Verlauf der europäischen Integration Gesetze und Verordnungen gegeben, doch es
gab bisher keine Verfassungsordnung. Diese Lücke ist mit dem Vertrag von Lissabon geschlossen
worden, was für die Zukunft der Union eine große Bedeutung hat, wie auch die Verankerung
der europäischen Leitwerte im Verfassungsvertrag neu und bedeutsam ist.
Das Festschreiben gemeinsamer Werte war den europäischen Parlamentariern sogar so
wichtig, dass sie sich nicht mit dem erwähnten Wertekanon der Verfassungstexte begnügten.
Sie verabschiedeten vielmehr zusätzlich auch eine »Charta der Grundrechte der Europäischen
Union«.3
Der erste Artikel dieser Charta »Die Würde des Menschen ist unantastbar« folgt im
Wortlaut dem entsprechenden Text des deutschen Grundgesetzes. Die folgenden Hauptabschnitte
»Würde des Menschen« – »Freiheiten« – »Gleichheit« – »Solidarität« und »Bürgerrechte
« folgen dem Wertekanon der Verfassungsdokumente und der Schlussabschnitt – »Allgemeine
Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta« – enthält auch die
Verpflichtung zu einer ernsthaften Suche nach geeigneten Prozeduren für die institutionelle
und politische Umsetzung der aufgelisteten Grundrechte und Werte.
3. Die Meinung der europäischen Bürger
Doch was sagen die europäischen Bürger selbst zu »ihren« Werten? Welche Werte sind ihnen
besonders wichtig?
Das sogenannte »Eurobarometer« der Europäischen Union, in dem gleichzeitige Umfragen
aus allen Ländern der Europäischen Union erarbeitet und veröffentlicht werden, hat sich in
seiner Herbstumfrage 2006 erstmalig auch mit Werten und gesellschaftlichen Themen befasst,
wobei knapp 30.000 Personen befragt wurden.4
Den Befragten wurde zweimal eine Liste von Werten vorgelegt, aus denen sie jeweils drei
Werte benennen sollten, einmal hinsichtlich der für sie persönlich wichtigsten Werte, zum
anderen in Bezug auf die Frage, welche Werte die Europäische Union am besten repräsentieren
würden. Die Vorgaben, unter denen jeweils gewählt werden konnte, waren dabei die folgenden:
Rechtsstaatlichkeit; Respekt gegenüber dem menschlichem Leben; Menschenrechte; Freiheit
des Einzelnen; Demokratie; Frieden; Gleichheit; Solidarität; Toleranz; freie Religionsausübung;
Selbstverwirklichung und Respekt gegenüber anderen Kulturen.
Für die Befragten als persönlich am wichtigsten erwiesen sich Frieden (52 Prozent), Respekt
gegenüber dem menschlichem Leben (43 Prozent) und Menschenrechte (41 Prozent).
3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ebenda, S. 205–217.
4 Eurobarometer 66. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Befragung, durchgeführt im
Auftrag der Generaldirektion Kommunikation http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb66/
eb66_highlights_de.pdf, download 28. 11. 2010, S. 35f.
212
Als die drei Werte, die in der Sicht der EU-Bürger die Europäische Union am eindrucksvollsten
repräsentieren, wurden Menschenrechte (38 Prozent), Demokratie (38 Prozent) und
gleichfalls Frieden (36 Prozent) genannt.
Die freie Ausübung der Religion gehörte dagegen nur für sieben Prozent der Befragten
zu den drei wichtigsten persönlichen Wertbereichen, und nur drei Prozent von ihnen
bezeichneten Religionsfreiheit als einen der drei wichtigsten repräsentativen Werte der Europäischen
Union.
Die Befragung deutet somit auf ein Wertverständnis der europäischen Bürger hin, das
mit den Formulierungen in Verfassung und Verfassungsvertrag weitgehend übereinstimmt,
sie bestätigt zugleich aber auch das vorwiegend säkulare Verständnis europäischer Werte,
das ja auch im – mancherorts beklagten – Verzicht auf einen Gottesbezug im europäischen
Verfassungsvertrag seinen Ausdruck gefunden hat.
4. Bilanz der gegenwärtigen Wertdebatte
Dass Werte im Bewusstsein der Bevölkerung präsent sind und dass Werte nach dem Willen
der Verfassung zur Grundlage des politischen Handelns und Entscheidens gemacht werden
sollen, bedeutet nun freilich nicht, dass Institutionen und Politik die Wirksamkeit und Verbindlichkeit
von Werten sichern könnten.
Gewiss, eine erfolgreiche Politik sowie zweckmäßige und konsistente Institutionen können
dazu beitragen, dass sich Wertbewusstsein entfaltet und dass sich das Vertrauen festigt,
das Bürger der Politik entgegenbringen, wie umgekehrt eine schlechte Politik und inkonsistente
Institutionen Vertrauen und Moral zerstört. Doch letztlich sind Werte den Institutionen
und politischen Entscheidungen vorgeordnet, geben ihnen Impuls und Richtung und
folgen ihnen nicht nach.
Werte sind im Gespräch: Auf der einen Seite ist von Wertewandel, wenn nicht gar
von Werteverfall die Rede. Auf der anderen Seite wird die Notwendigkeit betont, alte
Wertesysteme zu beleben, sie erneut verbindlich zu machen oder gar neue Wertesysteme
zu entwickeln. Während in den Medien und der Populärpublizistik eine eher negative
Einschätzung dominiert, die meist an spektakulären Ereignissen (Korruptionsskandalen, sexuellen
Entgleisungen prominenter Mitbürger, unterschiedlichen Formen von Gewalttätigkeit)
festgemacht wird, stehen sich in der Politikwissenschaft, Soziologie und empirischen
Sozialforschung zahlreiche analytische Ansätze mit unterschiedlichen Ergebnissen und
Interpretationen gegenüber.5 Als wichtige Autoren sind u.a. Ronald Inglehart6, Helmut
5 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Belwe, Katharina: Editorial, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001.
6 Inglehart Ronald/Baker, W. E.: Modernization, cultural change, and the persistence of traditional values,
in: American Sociological Review, 65, 2000; Inglehart, Ronald: Modernisierung und Postmodernisierung.
Frankfurt 1998.
213
Klages7, Elisabeth Noelle-Neumann8 und Karl-Heinz Hillmann9 hervorzuheben. Was die
einen als zunehmende Selbstentfaltung, Autonomie und Gleichberechtigung beschreiben,
stellt sich für andere Autoren als Werteverfall oder -verlust dar. Einige Untersuchungsergebnisse
deuten neuerdings auf eine Wiederbelebung »traditioneller« Werte wie Moral,
Pflichtbewusstsein, »Law and Order« sowie Fleiß hin. Ob derartige Entwicklungen auf die
generelle Renaissance eines bürgerlichen Wertesystems verweisen, ist allerdings umstritten.
Umstritten ist auch, ob der neuerliche Bezug auf bestimmte tradierte Wertkonventionen
tiefer geht oder lediglich eine auf Teilbereiche der Gesellschaft beschränkte »Wertdekoration
« darstellt.
Insgesamt steht nach wie vor die auf viele Beobachtungen gestützte Befürchtung im
Vordergrund, dass im politisch-gesellschaftlichen wie im privaten Leben viele Werthaltungen
fehlen, unzureichend vorhanden sind oder einen unverbindlich-rhetorischen Charakter
angenommen haben, die das Verhalten der Menschen bisher geregelt haben. In
zunehmendem Maße vermisst werden Einstellungen, die unmittelbar öffentlich bedeutsam
sind wie soziale Verantwortung, Sorge um die Zukunft der Gemeinschaft, Offenheit für
den Mitmenschen, Redlichkeit im Umgang miteinander sowie Maßhalten im Vertreten
von ideologischen Standpunkten und materiellen Interessen. Vor allem die politischen und
wirtschaftlichen Eliten werden unter diesen Gesichtspunkten zunehmend kritisch betrachtet.
Machtversessenheit vor der Wahl und Machtvergessenheit nach der Wahl (Richard von
Weizsäcker) etwa ist ein ebenso pointierter wie oft zitierter Vorwurf an die Adresse der
politischen Parteien. Den ökonomischen Eliten wird Missbrauch wirtschaftlicher Macht,
ungebremste Geldgier, »Heuschreckenmentalität« und »Weißkragenkriminalität« vorgehalten.
Vermisst werden aber auch Einstellungen, die der tagtäglichen Alltagspraxis zuzurechnen
sind, wie Rücksichtnahme, Respekt und Höflichkeit im Umgang miteinander. Rüdes
Verhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht zuletzt alten und gebrechlichen Fahrgästen
gegenüber, mag ein anschauliches Demonstrationsfeld hierfür sein.
Auch die Freimaurer stehen im Wertediskurs. Denn die Frage nach Werten, Tugenden
und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange, in die Zeit seiner
Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition.10 Auch die gegenwärtige
Wertproblematik ist für die Freimaurer von großer Bedeutung, und es ist eine Herausforderung
für sie, den Wertewandel der Gegenwart mit ihrer Ideenwelt zu konfrontieren, nach
der heutigen Relevanz ihrer Ideenwelt zu fragen und über die Tragfähigkeit ihres eigenen
Beitrags zum Wertediskurs nachzudenken.
7 Klages, Helmut/Gensicke, Thomas: Wertesynthese – funktional oder dysfunktional, in: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, 58. Jg. 2006. Klages, Helmut: Werte und Wertewandel, in:
Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 2. Auflage,
Opladen 2001.
8 Noelle-Neumann, Elisabeth: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich
1978; Noelle-Neumann, Elisabeth/Petersen, Thomas: Zeitenwende. Der Wertewandel. 30 Jahre später,
in: »Aus Politik und Zeitgeschichte« 29/2001.
9 Hillmann, Karl-Heinz: Wertwandel, Würzburg 2003.
10 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Der Freimaurerdiskurs der Gegenwart. Was ist, was will, was soll die
Freimaurerei, in diesem Band S. 152–178; ders.:, Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen
zum Wechselspiel zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in:
Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239.
214
Die zunehmende Verunsicherung, ja das zunehmende Krisenbewusstsein, das als
Hauptgrund für das Nachdenken über die Wertgrundlagen der Gesellschaft erkennbar ist,
lässt sich auf die zahlreichen, oft grundstürzenden Veränderungen zurückführen, die kennzeichnend
für die politische und gesellschaftliche Struktur der Gegenwart geworden sind.
Ich nenne nur mit Stichworten
• die Globalisierung mit ihren vielen ungelösten Problemen und Herausforderungen;
• die Auflösung der festen internationalen Strukturen nach dem Zusammenbruch des
kommunistischen Weltsystems;
• die konfliktträchtigen Mischungen von multikulturellen Gesellschaften, religiösen Fundamentalismen
und internationalem Terrorismus;
• die Zunahme problematischer technischer Machbarkeiten wie Genmanipulation und Anwachsen
der Kontrolle über den Menschen durch eine ausufernde Erfassung seiner persönlichen
Daten;
• die Gefährdung der Stabilität von Umweltbedingungen (Stichwort: drohende Klimakatastrophe)
sowie
• die ganz aktuellen – vermuteten oder tatsächlichen – Zusammenhänge zwischen Finanzsystem,
Wirtschaftskrise und den moralischen Grundlagen der Wirtschaft.
Entscheidend aber sind die gesellschaftlichen Veränderungen der gegenwärtigen Moderne
bzw. Postmoderne, die unverkennbar ein Ende der bürgerlichen Gesellschaft im traditionellen
Sinne bedeuten:
• die Veränderungen von Glaubenssystemen, Wertorientierungen und Lebensstilen im
Sinne einer immer heterogener, unverbindlicher und flüchtiger werdenden »Multioptionsgesellschaft
« (Peter Gross11),
• die Veränderung von Wahrnehmungen und Interessen im Sinne einer »Erlebnisgesellschaft
« (Gerhard Schulze12), die sich auf unterhaltsame Events und wechselnde Oberflächenreize
orientiert,
sowie
• die tiefgehende Umstrukturierung und Neuformierung der Realgesellschaft13, geprägt
durch Wandlungen in der Altersstruktur der Gesellschaft, eine drohende Desintegration
der Generationen, Probleme der Integration von Menschen mit Einwanderungshintergrund,
Veränderungen in der Arbeitswelt, ein neues Verhältnis der Geschlechter zueinander
sowie veränderte Formen der sozialen Einbindung bzw. Vernetzung der Menschen,
d.h. Wandlungen in der Struktur des »Sozialkapitals« im Sinne einer geringeren Bereit-
11 Vgl. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/Main 1994.
12 Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1992;
Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt/M. 1999.
13 Vgl. Bergmann, Jörg/Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer im Prozesse der Modernisierung heute,
in: Quatuor Coronati Jahrbuch, 40, 2003, S. 93–102; Hans-Hermann Höhmann: Freimaurerei als Sozialkapital.
Sozialwissenschaftliche Aspekte der gegenwärtigen Freimaurerei in Deutschland, in: Quatuor
Coronati Jahrbuch, 41, 2004, S. 303–321; ders.: Vertrauen als Element ökonomischer Kultur, in: Festschrift
für Wolfgang Eichwede, Bremen 2007.
215
schaft zu dauerhafter Bindung an hergebrachte bürgergesellschaftliche Gruppierungen
(Robert Putnam14).
All diese Entwicklungen erfordern rasche und nachhaltige Reaktionen von Politik und Gesellschaft.
Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die zuvor skizzierten Probleme nicht allein
pragmatisch zu lösen sind. Institutionen, Verfassungen, Normen, Rechtsregeln, staatliche
Interventionen – all das reicht hierzu offensichtlich nicht aus. Es ist vielmehr – national
und international und insbesondere auch im europäischen Kontext – nach der Wertorientierung
von Politik und Gesellschaft zu fragen, nach den »vorpolitischen moralischen Grundlagen
des Gemeinwesens«15, und zwar nicht im Sinne eines Vorhandenseins bloßer Wertkataloge,
sondern im Sinne einer für Politik und Gesellschaft verbindlichen Wertpraxis.
Um es salopp mit Erich Kästner zu sagen: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«
5. Die »Böckenförde-Formel«
Ernst-Wolfgang Böckenförde, deutscher Rechtsprofessor und von 1983 bis 1996 Richter am
Bundesverfassungsgericht, hat das Problem der Gewährleistung einer integrierenden, motivierenden
und verhaltensleitenden Grundlage einer modernen säkularen Gesellschaft auf die
immer wieder zitierte – sozusagen »klassisch« gewordene – Formel gebracht:
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht
garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen
ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit,
die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen
und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese
inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges
und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit
aufzugeben …«16
Ralf Lord Dahrendorf hat Zweifel an der generellen Gültigkeit der zitierten Sentenz Böckenfördes
angemeldet und betont, dass unter den »Ligaturen«, wie er Formen von Bindung innerhalb
der Gesellschaft und Solidarität stiftende Elemente genannt hat, möglicherweise
doch auch »Institutionen der liberalen Ordnung« eine größere Rolle spielen als von Böckenförde
angenommen.17 Demokratische Überzeugungen können tatsächlich auch im Vollzug
demokratischer Praxis, gleichsam als »Einübungsdemokratie« entstehen. Doch ist die Präfe-
14 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civil Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.,
Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; ders. (Hrsg.): Gesellschaft
und Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
15 Habermas, Jürgen/Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg
2004.
16 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht,
Staat, Freiheit, Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am
Main 1991, S. 42–64, hier S. 60.
17 Lord Dahrendorf, Ralf/Nolte, Paul: Bürgerlichkeit in Deutschland, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte
und Gesellschaftspolitik, 170, 44. Jahrgang, Juni 2005, Heft 2, S. 3–20, hier S. 15f.
216
renz für liberale Institutionen kaum vorstellbar ohne bestimmte Wertvorstellungen und motivationelle
Regulierungskräfte.
Mit der Frage nach den Regulierungskräften, die den Staat tragen, seine Homogenität
verbürgen und die Freiheit seiner Bürger sichern, und »deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft
aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann«,18 ist die Frage
nach der Wirkungskraft von gesellschaftlichen Werten in einer säkularisierten Gesellschaft
gestellt, die nicht mehr allein und nicht mehr vorrangig religiös bestimmt sind. Allgemeiner
gefasste, doch nicht weniger verbindliche Werte müssen dann zu den grundlegenden,
zentralen Zielvorstellungen und Orientierungsmaßstäben für das individuelle menschliche
Handeln und für das soziale Zusammenleben werden. »Werte sind unbedingte Vorrangregeln
mit moralischer Qualität« – dies das Wort Udo di Fabios, wie Böckenförde gleichfalls
Bundesverfassungsrichter.19 Werte bedeuten, so einmal nüchtern-kategorisch von Niklas
Luhmann formuliert, »Höchstrelevanz mit normativem Gehalt«.20
Werte haben sowohl eine individuell-persönliche als auch eine kollektiv-gesellschaftliche
Dimension.
In individueller Hinsicht bestimmen Werte Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und
Selbstachtung jedes einzelnen Menschen: Menschen definieren sich im Hinblick auf die
Werte, zu denen sie sich bekennen und für die sie einstehen.
In sozialer Hinsicht orientieren sich Gruppen und Gesellschaft an Werten. Von ihrer
Wertbasis her wird bestimmt, wie sich eine Gesellschaft selbst versteht, welche Grundprinzipien
für ihre Gestaltung bestimmend, welche Elemente von »Leitkultur« für sie gültig
sein sollen.
Woher stammen europäische Werte? Wie und durch wen können sie dem überwiegend
rhetorischen Charakter entgehen, der ihnen oft anhaftet, und als Handlungsgrundlage
verbindlich werden? Und welche Rolle spielt dabei ein Bewusstsein, das man ein »bürgerliches
« nennen kann?
6. Die europäische Wert- und Bürgertradition – Rolle der
Freimaurerei
Die Werte, die als ideelle Grundlagen einer modernen europäischen Gesellschaft dienen
können, entstammen den großen Werterzählungen der Aufklärungszeit, die ja europäische
und nicht zuletzt auch freimaurerische Werterzählungen gewesen sind.
»Vor allem im Milieu des damals entstehenden Bürgertums« – so erläutert der Berliner
Historiker Jürgen Kocka21 – »entwickelten sich (im späten 18. Jahrhundert) moderne, durch
die Aufklärung geprägte Ideen, Ideen von einer neuen Gesellschaft, Kultur und Politik: das
Programm einer ›bürgerlichen Gesellschaft‹. Es wurde in den bürgerlich geprägten Assoziationen
und Lesegesellschaften, in den Vereinen und Zeitschriften des späten 18. und frühen
18 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, a.a.O., S. 59.
19 Zitiert nach http://bebis.cidsnet.de/weiterbildung/sps/allgemein/bausteine/erziehung, Download 24.
10.2006.
20 Zitiert nach ebenda.
21 Kocka, Jürgen: Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 9–10/2008, S.
3–9, hier S. 5.
217
19. Jahrhunderts diskutiert, bald auch auf öffentlichen Versammlungen und Festen der sich
ausbreitenden liberalen Bewegung«.
Eine besondere Rolle dabei spielten auch die Logen der Freimaurer. Die Logen schließen
»Privatleute zum Publikum« zusammen, und sie antizipieren Öffentlichkeit, wenn auch
noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit, so Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift
»Strukturwandel der Öffentlichkeit«.22 Reinhart Koselleck beschrieb die Loge
als das »stärkste Sozialinstitut der moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert«23 und
hob ihre Wirkung mit den viel zitierten Worten hervor: »Die Freiheit im Geheimen« – d.h.
die Freiheit im geschützten Milieu der Loge – »wird zum Geheimnis der Freiheit«,24 d.h. der
zukünftigen politisch-gesellschaftlichen Freiheit in Europa.
Es war ein zukunftsgerichteter Entwurf, zu dem sehr verschiedene Autoren beigetragen
hatten – von John Locke und Adam Smith über Montesquieu und die Enzyklopädisten bis
zu Immanuel Kant und Gotthold Ephraim Lessing.
»Die bürgerliche Gesellschaft – wofür hältst du sie?«, fragt der Freimaurer Falk seinen
Freund Ernst beim Spaziergang auf der Bad Pyrmonter Hauptallee.25 Und nachdem dieser
erwidert, »für etwas sehr Gutes«, stimmen die Freunde wenig später darin überein, welchem
Zweck die bürgerliche Gesellschaft dienen soll: »Das bürgerliche Leben des Menschen,
alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit«, denn »die
Natur (hat) nicht die Glückseligkeit eines abgezogenen Begriffs – wie Staat, Vaterland und
dergleichen« zur Absicht gehabt –, sondern die »Glückseligkeit jedes wirklichen einzelnen
Wesens«. Und wiederum kurz danach – nach Erörterung auch ihrer negativen Seiten –
präzisiert Falk das für Lessings Aufklärungsverständnis Wesentliche: »Wenn die bürgerliche
Gesellschaft auch nur das Gute hätte, dass allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet
werden kann, ich würde sie auch bei weit größeren Übeln noch segnen.«
Eine solchermaßen positive Bewertung des Bürgertums galt allerdings nicht generell und
nicht immer, und man darf nicht übersehen, dass – auch hier folge ich Jürgen Kocka – Bürger
und Bürgertum in der neueren europäischen Geschichte sehr unterschiedlich bewertet
worden sind. Zwischen Ablehnung und Hochschätzung, Verachtung und Respekt, Hass und
Lob schwankt das Bild des Bürgertums in der Geschichte:26
• Da gab es die aristokratische Kritik, die den Bürger für borniert und mittelmäßig hielt.
• Da polemisierte die sozialistische Arbeiterbewegung gegen bürgerlichen Klassenegoismus,
bourgeoise Ausbeutung und bürgerlichen Standesdünkel.
• Da wandte sich die Jugendbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts gegen bürgerliche
Konventionen und bürgerliche Heuchelei.
• Da bekämpften die europäischen Faschisten den bürgerlichen Individualismus ebenso
wie den bürgerlichen Rechtsstaat.
22 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt und Neuwied 1962, S. 50f.
23 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/
München 1959, S. 64.
24 Ebenda, S. 60.
25 Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer (ursprünglich 1778/80), Frankfurt
am Main 1968.
26 Kocka, Jürgen: Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, a.a.O., S. 3.
218
• Da unterdrückten auch die kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts das Bürgertum
und die Artikulation seiner Kultur.
• Da gaben schließlich die am Marxismus orientierten Studenten und Intellektuellen, die
1968 in Berkeley, Paris und Berlin protestierten, ihrer Verachtung für alles Bürgerliche unmissverständlich
Ausdruck – bis hin zum Spott über »bürgerliche Wissenschaft«, »bürgerliche
Kunst« und »bürgerliche Liebe« (nach dem Motto: »Wer zweimal mit derselben
pennt, gehört schon zum Establishment«).
Umgekehrt schrieb der Historiker Theodor Mommsen 1899 im Rückblick auf sein Leben:
»… mit dem Besten, was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte,
ein Bürger zu sein.« Und Mommsen bedauerte: »Das ist nicht möglich in unserer Nation …«27.
7. Die Renaissance des Bürgers
Gewiss, es war nicht möglich in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert und es war
generell nicht möglich in einem Europa der vielerorts zur autoritären Rechten abdriftenden,
kriegerisch zerfallenen Nationalstaaten, in denen entgegen ihrer kosmopolitischen Tradition
bedauerlicherweise auch die Freimaurer aufs Ganze gesehen politisch keine positive Rolle
gespielt haben.28
Aber an der Wende zum 21. Jahrhundert, nach Katastrophen, politischen Verwerfungen
und grundstürzenden Systemumbrüchen, scheint es wieder möglich geworden zu
sein, Bürgerlichkeit zu reflektieren und neben der Ambivalenz ihrer Elemente auch ihre
»starken Seiten« und ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft auszuloten. Heute sind
die Begriffe »bürgerlich« und »Bürger« wieder deutlich positiv besetzt, so in Begriffen wie
»Staatsbürger«, »Bürgerrecht« und »Bürgergesellschaft« oder wenn im Verfassungsvertrag
von Lissabon von den »Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union« die Rede ist.
»Wir brauchen bewusste Bürger« –, so ist ein Interview der taz, der Berliner Tageszeitung,
mit den Professoren Ralf Lord Dahrendorf und Paul Nolte vom Dezember 2005
überschrieben, in dem Dahrendorf Typus und Habitus des von ihm gemeinten und gewünschten
Bürgers folgendermaßen beschreibt: »Seine Position ist nicht abgeleitet vom
Staat, sondern eine eigene, selbstbewusste Haltung.«29
Eine solche bewusste und unabhängige Bürgerlichkeit – so hatte schon ein paar Jahre
zuvor der niederländische Philosoph Stephan Strasser in seinen »Ethisch-politischen Meditationen
für diese Zeit« geschrieben – »orientiert sich am Ziel der rationalen Gestaltung der
menschlichen Geschichte durch mündige, diskutierende, friedlich konkurrierende Individuen
und Gruppen, im Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts«.30
27 Zitiert nach Kocka, ebenda.
28 S. hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten
Weltkrieg, in diesem Band, S. 51–87.
29 »Wir brauchen bewusste Bürger«, taz vom 31. Dezember 2005.
30 Strasser, Stephan: Ethisch-politische Meditationen für diese Zeit, zitiert nach Kocka a.a.O., S. 3.
219
8. Odo Marquards Philosophie der Bürgerlichkeit
Mein persönlicher Favorit als Gewährsmann einer neu durchdachten Konzeption von Bürgerlichkeit
ist allerdings der in Gießen lehrende Philosoph Odo Marquard, um dessen Interpretation
im Kontext aktueller Politik sich vor allem der Berliner Historiker und Politikwissenschaftler
Jens Hacke verdient gemacht hat.31
Marquard setzt einen »weiten Begriff des Bürgerlichen«32 voraus und löst sich damit
von den vor allem in der historiographischen Literatur häufig anzutreffenden engen historisch-
soziologischen Definitionen des Bürgerbegriffs: »Der Bürger – als freies und gleiches
Mitglied der Bürgerwelt der ›polis‹ – ist der individuelle Mensch, der selbstbestimmt für
sich und seine Mitbürger einsteht.«33
Dabei ist der Bürger kein eifernder Ideologe: Marquard tritt für die Normalität, das
gänzlich Unspektakuläre der bürgerlichen Welt ein, denn diese bevorzuge »das Mittlere
gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber der großen Infragestellung
…, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem
Enormen, kurzum: die Bürgerlichkeit gegenüber ihrer Verweigerung. So ist die bürgerliche
Welt – auch weil die Lebensvorteile, die sie bringt, als selbstverständlich gelten – nicht sehr
aufregend, ein wenig langweilig gar und reichlich allzumenschlich«.34
Die Sympathie für den von einem empathischen common-sense-geleiteten Durchschnittsbürger,
der in seiner heimatlichen Lebenswelt eingebettet ist und sich in ihr auf
vielfältige Weise politisch und sozial engagiert, steht im Vordergrund dieser eher pragmatischen
als ideologischen Konzeption von Bürgerlichkeit.35
Inhaltlich sind Marquards Leitlinien auf einfache Formeln zu bringen. »Bürgerlichkeit« manifestiert
sich für ihn in fünf grundsätzlichen Einstellungen:
Erstens im Festhalten an der Aufklärung als jener Modernitätstradition, »die – als Wille zur
Mündigkeit, d.h. zum Erwachsensein – den Mut zur Nüchternheit zur Routine macht. Man
darf – weil man von Usancen ohne Not nicht abweichen soll – auch von dieser Tradition
(der Usance Modernität) nicht ohne Not abweichen. Dabei muss man die Aufklärung vor
jenen retten, die sie zum Kursus in Weltfremdheit umfunktionieren wollen: zum Doping für
Revolutionäre«.36
Zweitens in der Absage an ideologische Verblendung, im »Abschied vom Prinzipiellen« (so
der Titel eines seiner Bücher), in der Bereitschaft zu intellektueller Offenheit und im Verteidigen
einer »offenen« Gesellschaft: »All diese Überlegungen verabschieden die prinzipielle
Philosophie; aber sie verabschieden nicht die unprinzipielle Philosophie: die Skepsis. Sie ver-
31 Hacke, Jens: Bekenntnis zur Bürgerlichkeit. Selbstbehauptungsmotive in der Philosophie der Bundesrepublik,
in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 170, 44. Jahrgang, Juni 2005,
Heft 2, S. 33–44, hier S. 39f. Meine Interpretation folgt im Wesentlichen Hacke.
32 Marquard, Odo: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, S. 93.
33 Ebenda.
34 Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 106.
35 Hacke, Jens: a.a.O., S. 40.
36 Marquard, Odo: Zeitalter der Weltfremdheit, in: ders.: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 76–97,
hier S. 94f.
220
abschieden für die Menschen die prinzipielle Freiheit; aber sie verabschieden nicht die wirkliche
Freiheit, die im Plural: die Freiheiten.«37
Drittens in der Bewahrung der freiheitsbedingenden Wirkung der Gewaltenteilung: »Individuelle
Freiheit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzigen
Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere – voneinander unabhängige – Wirklichkeitsmächte
existieren, die – beim Zugriff auf den Einzelnen – durch Zugriffsgedrängel einander
wechselseitig beim Zugreifen behindern und einschränken. Einzig dadurch, dass jede
dieser Vielzahl von Wirklichkeitspotenzen – politische Formationen, Wirtschaftskräfte, Sakralgewalten,
Geschichten, Überzeugungen, Üblichkeiten und Traditionen, Kulturen – den
Zugriff jeder anderen einschränkt und mildert, gewinnen die Menschen ihre Distanz und
individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. So lebt das Individuum von
der Gewaltenteilung: sola divisione individuum.«38
Viertens im Einsatz für einen Pluralismus, der aus Skepsis vor absoluten Wahrheiten und
aus Respekt vor vielfältigen Herkunftsgeschichten resultiert. Ohne das Nebeneinander und
das Miteinander unterschiedlichster bürgergesellschaftlicher Gruppierungen, ohne Pluralität
auch der Denkformen kann keine freie Gesellschaft existieren: »Es muss eine Pluralität
von Wirklichkeitsmächten geben, damit individuelle Freiheit sein kann. Darum – beispielsweise
– dürfen die Menschen – jeder Mensch für sich und alle Menschen zusammen – nicht
nur eine Geschichte haben, sondern sie brauchen viele Geschichten; und entsprechend dürfen
die Philosophen – jeder Philosoph für sich und alle Philosophen zusammen – nicht nur
eine Denkform haben, sondern sie brauchen viele Denkformen. Jede befreit den Einzelnen
von der Macht der jeweils anderen und sichert ihm dadurch den Freiheitsspielraum fürs Selberleben
und Selberdenken.«39
Fünftens schließlich im hartnäckigen Festhalten an dem durch die Institutionen des
Rechtsstaats und durch das Handeln demokratischer Politik gewährten Schutz der individuellen
Freiheitsräume des Bürgers sowie durch eine engagierte Haltung, jede »Bürgerlichkeitsverweigerung
« zu verweigern: »Denn die Kontraposition zur einen – der totalitär
nationalsozialistischen – Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die andere – die totalitär
sozialistische – Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung:
die insofern ›konservative‹ Option für die bürgerlich liberale
Demokratie.«40
37 Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische
Einleitung, Stuttgart 1981, S. 4–22, hier S. 19.
38 Marquard, Odo: Mut zur Bürgerlichkeit, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische
Studien, Stuttgart 2004, S. 91–96, hier S. 95.
39 Marquard, Odo: Die Denkformen und die Gewaltenteilung, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung,
a.a.O., S. 114–123, hier S. 122.
40 Marquard, Odo: Eine Philosophie der Bürgerlichkeit, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung, a.a.O.,
S. 159–165, hier S. 165.
221
9. Vom bürgerlichen Selbst- und Wertbewusstsein zur
gesellschaftlichen Praxis
Wie aber kommen diese Einstellungen in der politischen Praxis zustande? Wie lassen sie sich
im Habitus des Bürgers verankern, der ja nur durch eine solche Verankerung zum selbstund
wertbewussten Bürger wird? Gewiss nicht durch eine bloße Wertrhetorik, die eher abstößt
und Verdruss bereitet, wohl aber durch eine Praxis bürgerlicher Wertaneignung und
Wertumsetzung.
Hierzu drei Überlegungen zum Schluss:
Erstens: Zur Praxis bürgerlicher Wertaneignung gehört ein komplexes und schwieriges Verständigungsprogramm,
denn es gibt viele Fragen, die nach Antwort verlangen:
• Welche Werte sollen gelten?
• Wie verhalten sich die einzelnen Werte zueinander, Freiheit und Gleichheit etwa?
• Auf welche Weise sind Werte ganz konkret und gesetzestechnisch in Institutionenbildung
und Politik umzusetzen?
• Was sind die zweckmäßigen pädagogischen Programme, um – insbesondere bei jungen
Menschen – Wertbewusstsein zu wecken und habituell zu verankern? Ethikunterricht
etwa oder Pro-Reli?
Eine solche Prüfung, Befragung und Konkretisierung von Werten setzt die Anerkennung der
Pluralität von Auffassungen sowie einen toleranten, redlichen Diskurs voraus. Dabei geht es
nicht nur um Werte, es geht auch um Einsicht in die Strukturen der realen Welt, die immer
unübersichtlicher werden und die es schwierig machen, für politische und gesellschaftliche
Herausforderungen Lösungen zu finden, die nicht nur den Werten entsprechen, auf die man
sich beruft, sondern bei denen auch das erforderliche Maß an Praktikabilität und Alltagsvernunft
nicht zu kurz kommt.
Zweitens: So wichtig eine Verständigung über heutige Realitäten ist, die notwendige Tiefe gewinnt
dieser Diskurs doch nur, wenn er sich mit Erinnerungskultur und historischer Reflexion
verbindet. Die europäischen Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts haben ja dem
Europa der Aufklärung im Sinne einer den europäischen Eliten gemeinsamen Lebens- und
Denkweise ein Ende gesetzt. An diese gemeinsame Lebens- und Denkweise hätte das heutige
Europa wieder anzuknüpfen. Um aber an gemeinsame Vergangenheiten anknüpfen zu können,
müssen die Europäer der Gegenwart – so hat es der lange in Princeton und seit 2007
in Harvard lehrende Historiker Robert Darnton einmal formuliert – »einen Salto rückwärts
über das 19. und 20. Jahrhundert springen und sich von neuem mit der europäischen Dimension
des Lebens im Zeitalter der Aufklärung auseinander setzen. Nicht, dass irgendwer
das 18. Jahrhundert wieder aufleben lassen wollte – lebte doch damals die große Mehrheit
der Europäer im Elend und war doch die Aufklärung selbst eine komplexe Bewegung voller
Widersprüche und Gegenströmungen«.41
41 Darnton, Robert: Das Glück der Gemeinschaft, in: Aust, Stefan/Schmidt-Klingenberg, Michael (Hrsg.),
Ein Kontinent macht Geschichte. Experiment Europa, Stuttgart/München 2003, S. 125–143, hier S. 126.
222
Doch sie ist »vergangene Hoffnung« (Horkheimer/Adorno), sie ist der Ursprung jener
Werte, »die heute das Herzstück der Europäischen Gemeinschaft ausmachen, und
das in einer Form, die eine wirkliche, zukunftsträchtige Alternative zum Nationalismus
ermöglicht«.42
Freilich müssen europäische Werte heutzutage offen sein für tolerante Begegnungen
mit den Werten anderer Kulturen, wenn sie auch ihren Kern bei diesen Begegnungen zu
bewahren haben. Nicht aus Prinzip und Überheblichkeit, sondern deshalb, weil sie sich als
Grundlage einer freien Gesellschaft ganz pragmatisch bewährt haben.
Drittens schließlich ist bürgerliches Handeln vonnöten. Es kommt auf eine Teilhabe am
Leben der Gesellschaft an, die nicht exklusiv ist im Sinne eines Ausschlusses anderer und
die nicht daherkommt als eine »Bürgerlichkeit der feinen Leute«, sondern die als eine »Bürgerlichkeit
der Einbeziehung aller« wirkt, als eine Bürgerlichkeit der sozialen Offenheit, als
eine Bürgerlichkeit, die andere mitnimmt und die auch die weniger Privilegierten in das gesellschaftliche
Ganze einschließt. Insofern darf Eintreten für »Bürgerlichkeit« auch in keiner
Weise als Gegensatz zum Sozialstaat gesehen werden, dessen Notwendigkeit unbestritten
bleibt.
Eine Einstellung bewusster, wertorientierter Bürgerlichkeit erfordert nicht zuletzt eine
Mitwirkung in den vielen Gruppierungen der Bürgergesellschaft – von den Familien über
die Parteien, die Bürgerinitiativen, die Vereine, die Kindergärten und Schulen bis hin zum
Hospiz und zur Altenbetreuung, – d.h. eine Mitwirkung in den zahlreichen vom Staat unabhängigen
Initiativen und Assoziationen, deren Aktivitäten und deren Vernetzung allein
eine humane Gesellschaft ermöglicht. Dabei ist die Vernetzung bürgergesellschaftlichen Engagements
über die nationalen Grenzen hinaus besonders wichtig für die Zukunft Europas.
»Die simultane Eröffnung von Baustellen der Bürgerschaft« – so der französische Philosoph
Étienne Balibar in seiner lesenswerten Essay-Sammlung »Sind wir Bürger Europas?«
– »ist die konkrete Voraussetzung, damit der öffentliche Raum wieder zum Raum des
Bürgers wird. Deshalb ist die Frage einer europäischen Öffentlichkeit (die praktisch immer
noch nicht existent,
aber gleichwohl ›latent‹ vorhanden ist) so wichtig … Ohne eine solche
Öffentlichkeit ist in dem geschichtlichen Raum, in den wir nun eingetreten sind, an ›aktive
Bürgerschaft‹ nicht zu denken … Wenn Europa (das heißt die wirklichen Europäer, die
›Einwohner‹ Europas) die Triebkraft der politischen Aktion auf diese Weise umverlagern
kann, wird es zweifellos nicht das sich selbst genügende ›Ganze‹ sein, das die Verträge und
Gipfel verkünden. Es könnte aber – als der Name eines künftigen Volkes – durchaus ›etwas‹
werden«.43
10. Und die Freimaurerei?
Wie kaum eine andere Assoziation stehen die Freimaurer in der Geschichte europäischer
Wertentwicklung und in der Tradition europäischen Bürgerbewusstsein. Die Frage nach
Werten, Tugenden und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange,
42 Ebenda.
43 Balibar, Étienne: Sind wir Bürger Europas?, Bonn 2005, S. 290.
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in die Zeit seiner Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Ja, man
kann die Freimaurerei geradezu als Bund definieren, der sich um ethische Orientierungen
herum entwickelt hat und in dem der Wertediskurs von Anbeginn an eine zentrale Rolle
spielte. »A peculiar system of morality« (»ein eigentümliches System der Moralität« – eigentümlich
aufgrund der mit ihm verbundenen symbolisch-rituellen Lehrmethode) – so haben
die englischen Freimaurer schon früh ihren Bund genannt.
Mit fünf Feststellungen lassen sich die Zusammenhänge zwischen Freimaurerei, Wertediskurs
und Wertepraxis umreißen:
1. Freimaurer sind aufgrund ihrer Tradition mit der Entwicklung ethischer Werte verbunden
und aufgrund dieser Tradition auch an der Umsetzung von Werten in der Lebenspraxis
der Gegenwart interessiert. Werterziehung gehört daher zu den wichtigsten Aufgaben
der Loge.
2. Freimaurer gehen davon aus, dass Werterziehung scheitern muss, wenn sie nicht im Verhalten
der einzelnen Menschen innerhalb der Gesellschaft eingeübt und verankert wird.
Deshalb versteht sich die Ethik der Freimaurer in erster Linie als eine Ethik der Einübung
(Klaus Hammacher).
3. Freimaurer sind der Auffassung, dass die Gruppe das leistungsfähigste Medium der Werterziehung
und der Einübung wertbezogener Verhaltensweisen ist. Dies gilt für die Familie,
den Kindergarten, die Schule und die Kirchengruppe ebenso wie für die Logen der
Freimaurer.
4. Freimaurer sind davon überzeugt, dass in der Freimaurerei geeignete Methoden zur Einübung
von Werten vorhanden sind, und sie sehen diese in der sozialen, der diskursethischen
und der rituellen Praxis der Loge.
5. Freimaurer wissen, dass sie in der Praxis der Einübung und der alltäglichen Umsetzung
von Werten immer wieder scheitern können und sie haben dafür ein anschauliches Symbol,
den rauhen, unbehauenen Stein des eigenen Selbst, den sie immer wieder bearbeiten
müssen.
Freimaurerei war zuerst eine europäische Bewegung, eine Bewegung engagierter europäischer
Bürger, bevor sie im 19. und im frühen 20. Jahrhundert – nicht zu ihrem Vorteil und
nicht zum Vorteil Europas – nationalstaatlichen Charakter annahm, in Deutschland teilweise
gar völkisch wurde und sich zugleich einer lähmenden Innerlichkeit verschrieb.
Deshalb sind auch die Freimaurer aufgefordert, erneut über ihre Identität nachzudenken
und ihr Selbstverständnis sowie ihr Handeln an ihren besten, ihren europäischen Traditionen
auszurichten. Dieser europäischen Dimension hätten sich die Freimaurer – über die
bloß repräsentative und gesellige Begegnung hinaus – gegenwärtig verstärkt zu stellen und
sich wahrnehmbarer als bisher einzuordnen in die Reihe derer, denen Europa mit seiner
Kultur und mit der Tradition seiner Werte als Heimat der Menschen unseres Kontinents
am Herzen liegt.